Kuss der Sünde (German Edition)
dass du es begreifst. Du musst es mit eigenen Augen sehen, um auf den Geschmack zu kommen.“
Diese Feststellung ließ den allergrößten Argwohn in ihr aufsteigen. Sie hielt sich an den Sessellehnen fest. „Was wollen Sie mir zeigen?“
Er erhob sich und machte mit dem Arm eine zugleich einladende als auch allumfassende Geste. „Ich werde dir die schönen Dinge des Lebens zeigen . Wir beide, du und ich, werden heute Abend ausgehen.“
Sie wollte nicht ausgehen. Nahezu jeden Abend wurde sie von ihrer Mutter durch Salons geschleift, jungen Herren vorgestellt, von diesen umringt, dass sie fürchtete, sie könnten an ihr kleben bleiben oder ihr unter die Röcke kri e chen. Sie musste sich das Gezwitscher hirnloser Geschöpfe ihres Alters anh ö ren, die ihr mit wedelnden Fächern heiße Luft ins Gesicht trieben und ihr mit den Vogelfedern in ihren aufgetürmten Perücken die Augen auszustechen versuchten.
Ihr Onkel ließ Ausflüchte nicht gelten. Er nahm ihr Hand, drückte einen Kuss darauf und versprach, dass seine Kutsche sie pünktlich abholen würde. Überrumpelt blieb sie im Salon sitzen, während er hinausging, um ihre Schwestern zu begrüßen, mit Justin über dessen einsetzenden Bartwuchs zu fachsimpeln und ihre Mutter zu informieren. Viviane saß noch immer verzagt am Fenster und betrachtete ihre großen Füße in den flauschigen Hauspanto f feln, als Minette hereinkam
„Es ist Zeit, Sie umzukleiden und herzurichten, Demoiselle. Ein Abend mit Monsieur de Kerouac ist ein Ereignis, an das Sie noch lange denken werden.“
In der Kutsche trank Viviane zum ersten Mal Champagner aus dem Hause Ruinart.
Angeblich erfreute sich das leicht trübe Getränke zunehmender Beliebtheit. Zuerst prickelte es in d er Nase, dann am Gaumen und zuletzt bekam sie einen leichten Schwips, der sie prompt mit den außerordentlichsten Ideen konfro n tierte. Ein nächtliches Picknick an einem See, in den sie hineinspringen wollte. Selbstverständlich ohne ihre teure Robe von Madame Bertin. Ein Volksfest, auf dem schlichte, wilde Reigen getanzt wurden und sie ihre Schuhe von den Füßen schleudern durfte. Oder – unwiderstehlich – ein Spaziergang durch die Straßen von Paris und jede Menge fremde Taschen, in die sie hineingreifen konnte. Die flinken Finger einer Fee erhaschen jede noch so kleine Münze. Sie kicherte, bis die Kutsche in einen Hof einfuhr und vor einem hell erleuc h teten Haus hielt.
Am Arm ihres Onkels ging sie über einige Stufen auf die offene Tür zu. Ein Hüne mit rasiertem Kugelkopf empfing sie auf der Schwelle, verneigte sich stumm und gab ihnen den Weg ins Innere frei.
Das Vestibül war klein, beherrscht von einer weißen Marmortreppe, die in einem Bogen in die Beletage führte. Geigenspiel und gedämpfte Stimmen schwebten ihr entgegen. Eine erste ungute Ahnung breitete sich in ihr aus.
„Wo sind wir hier?“
„Im Stadthaus der berühmten Adrienne La Bouche. Sie ist eine begnadete Schauspielerin, du hast bestimmt schon von ihr gehört.“
Sie waren auf halbem Weg die Treppe hinauf, als ihr einfiel, in welchem Z u sammenhang sie von dieser Halbweltdame gehört hatte und weshalb sie La Bouche – der Mund – genannt wurde. Auf den Abendgesellschaften wurden jede Menge Schlüpfrigkeiten ausgetauscht.
„Sie ist eine Kurtisane. Wir sind in einem Bordell!“
„Aber nein, keineswegs. Adrienne ist eine Dame von Welt. Minister speisen in ihrem Salon. Philosophen und Dichter treffen hier auf Höflinge und mögl i che Mäzene. An ihren Spieltischen sind die Einsätze gelegentlich höher als in Versailles.“
Tatsächlich war der erste Raum, den sie in der Beletage passierten , ein Spe i sezimmer. Über der langen Tafel hing ein mit Kerzen besetzter Lüster. Laka i en trugen den nächsten Gang auf, zwei Geiger musizierten in einer Ecke. Ein Korken knallte. Es glich einer spätabendlichen Soiree, abgesehen davon, dass einzig Männer zugegen waren. Ein wenig versetzt zur Linken öffnete sich eine breite Flügeltür in einen Saal, in dem gespielt wurde. Gold und Silber blitzten auf den mit grünem Tuch bespannten Tischen. Hatten im Speisezimmer noch gedämpfte Gespräche geherrscht, so saßen die Gäste in diesem Saal schwe i gend beisammen, auf ihre Einsätze und das Blatt in der Hand konzentriert. Viviane hätte ihnen gern zugesehen, vielleicht selbst einen kleinen Einsatz gewagt, doch ihr Onkel führte sie zielstrebig auf das Ende des Ganges zu.
Knapp vor einer Biegung bot sich ihr ein kurzer Blick
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