Kuss des Feuers
reichhaltigen Bibliothek machen wolle? Am Montag ließ er einen Monsieur Falle holen, einen schlauen kleinen Schneider, der die herrlichsten Stoffballen vor ihr ausbreitete, dass sie aus dem Seufzen gar nicht mehr herauskam. Jeden Abend nahm sie köstliche Mahlzeiten zu sich, während er ihr alle möglichen Fragen stellte. Ob sie glaubte, dass Platons Utopie vom Idealstaat in der Realität umsetzbar wäre? Was sie vom neuen Realismus als Stilrichtung der Kunst halte? Sollte der Mensch so dargestellt werden, wie er wirklich war, oder sei ein idealisiertes Bild vorzuziehen? Was sie von Demokratie halte? Sollte jeder Mensch, unabhängig von seiner Geburt, das Recht haben, das Beste aus seinem Leben zu machen?
Sie genoss die Unbefangenheit ihrer Gespräche. Fast hatte sie das Gefühl, als würden sie einander schon ein Leben lang kennen. Natürlich stritten sie auch, doch dadurch wurde ihre Neugier nur noch größer und das Verlangen, sich noch ausführlicher mit ihm zu unterhalten, wuchs.
Wie sollte solch ein Mann dazu in der Lage sein, einen Menschen umzubringen? Oder wollte sie es vielleicht einfach nicht wahrhaben? Möglicherweise war es auch ein Hinweis auf ihren eigenen verdorbenen Charakter, dass sie sich so leicht mit ihm identifizierte. Wie Archer auch unter seiner Maske aussehen mochte, sie fühlte sich bei ihm geborgen. Es ging dabei nicht nur um das Alleinsein. Sie war schon früher allein gewesen. Doch das hatte sie nicht so wie jetzt berührt und sie mit dem Wunsch erfüllt, in seiner Nähe zu sein. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut, wenn sie mit ihm zusammen war. Dieses neue Gefühl war verführerisch.
Und so vergingen die Tage: Miranda wartete nur darauf, dass er ihr den Rücken kehrte, sodass sie nach draußen gehen und Antworten finden konnte, während Archer sie die ganze Zeit nicht aus den Augen ließ, als warte er nur darauf, dass sie weglief.
Und so kam es völlig überraschend für Miranda, als Archer am frühen Abend in den Salon trat und in seiner herrischen Art verkündete, dass sie heute ausgehen würden. Also hatte Miranda ihre Rüstung angelegt – ein Kleid aus silberfarbenem Satin, das sich wie Stahl an ihren Körper schmiegte und sehr passend war für den Anlass. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl bei der Vorstellung, dem
haute ton
gegenüberzutreten. Sie blickte zu dem prunkvollen Gebäude auf, das vor ihnen aufragte, und ihr wurde ganz bang ums Herz.
Archer warf ihr einen Blick zu, und sein Griff wurde fester, als fürchtete er, sie könnte flüchten.
Ein kluger Mann
. Schnell ging er mit ihr die Marmorstufen hinauf, die zu Lord Cheltenhams stattlichem Wohnsitz führten. »Haben Sie etwas an meiner ursprünglichen Begründung auszusetzen?«
Sie schob die Lippen vor. »Wenn Sie sagen ›Weil wir eingeladen worden sind‹, weichen Sie mir doch im Grunde aus. Das wissen Sie sehr wohl.«
Er lachte leise, und das machte sie noch wütender. Sie verlangsamte ihren Schritt, während sich ein gaffender Lakai in Bewegung setzte, um ihnen die Tür zu öffnen.
»Verdammt, Archer«, fauchte sie. »Warum sollen wir ihnen die Gelegenheit geben zu glotzen?«
Sie wollte nicht, dass man das mit ihm machte, und verspürte in Bezug auf Archer einen beängstigenden wie starken Beschützerinstinkt.
Archer beugte sich so tief hinunter, dass sein warmer Atem ihren Hals streifte. »Weil ich mich nicht mehr länger verstecken will, Liebste.« Die flüchtige Liebkosung mit seinem Daumen löste ein Beben entlang ihres in einen Handschuh gehüllten Handgelenks aus. »Nur Mut, schöne Miranda. Man soll nie jemandem den kleinen Finger reichen, denn dann nimmt er die ganze Hand.«
Die Eingangshalle von Lord Cheltenhams Anwesen war nicht so groß wie jene von Archer House, doch handelte es sich um einen eleganten Raum voller Statuen, eingetopfter Palmen und mit schweren Portieren versehener Torbögen. Gruppen von Männern und Frauen hatten sich an ruhigen Ecken zusammengeschart und sahen ihnen hinterher, als sie und Archer vorübergingen. Mitleidige Blicke und getuschelte Worte folgten ihnen. Würde sie die Nächste sein? Würden die Leute am nächsten Tag in der Morgenausgabe der Zeitung über sie lesen? Und die schrecklichen Details über den Tod der jungen Braut von Lord Archer verschlingen, während sie ihren Tee tranken und den Kopf angesichts ihrer Dummheit schüttelten?
Die Vorstellung ärgerte sie, und sie hob stolz den Kopf.
Archer ging einfach weiter, als wären sie allein. Vor ihnen stand
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