Kuss des Feuers
Und obwohl er sie nicht berührte, verhinderte er, dass sie weiterging.
»Sie haben recht, sich Sorgen zu machen. Archer steht mit dem Rücken an der Wand, und das weiß er auch.«
Mit der Schulter berührte sie die kalten Ziegel hinter sich, als sie vor McKinnon zurückwich, der immer näher kam. Er blieb stehen, als er sah, in welche Richtung sie sich bewegte, und musterte sie durchdringend.
»Sie würden alles tun, um ihn zu schützen, nicht wahr, Mädchen?« Leises Erstaunen schwang in seiner Stimme mit.
Sie drückte die Hände gegen die Wand. »Ich finde, jetzt gehen Sie zu weit.«
Langsam schüttelte McKinnon den Kopf, und ein wölfisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das glaube ich nicht.« Er trat einen kleinen Schritt näher. »Sollen wir es herausfinden?«
18
Der
Rusty Spanner
lag in der Mitte einer gewundenen, schmalen Straße, zwei Straßenzüge vom Londoner Hafen entfernt. Der Teergeruch, der aus dem Laden des Segelmachers drang, überlagerte alles: den stark aromatisierten Tee, den stechenden Geruch von Salzwasser und getrocknetem Fisch, den Schwefelgestank aus den Gerbereien und jenen Geruch, der entsteht, wenn zu viele Menschen und Waren auf zu engem Raum zusammengepfercht sind.
Archer versuchte, das Brennen in seiner Nase zu ignorieren, als er die Straße entlangging. Die niedrigen Gebäude neigten sich mal in die eine und mal in die andere Richtung und erinnerten an die zusammengeschobenen Zähne in einem zu schmalen Kiefer. In diesem Winkel der Stadt war es dunkel, und nur die goldenen Strahlen, die durch die Fenster in der Schenke fielen, und die Fröhlichkeit, die in ihr herrschte, brachten ein bisschen Licht herein. Jemand hatte ein Akkordeon hervorgeholt, und das ausgelassene Singen, das das Instrument begleitete, ließ vermuten, dass die Gäste schon recht tief in die Gläser geschaut hatten. Nicht tief genug. Die Musik hörte in dem Moment auf, als Archer durch die Tür trat. Das schrille Kreischen, mit dem das Instrument verstummte, machte aus seinem Hereinkommen einen Auftritt. Durch den dichten Tabakrauch richtete sich ein Meer von trüben Augen auf ihn. Aber nur einen Moment lang. Der Sänger nahm sein Lied wieder auf. Die ersten Takte klang seine Stimme noch etwas unsicher, doch dann fiel das Akkordeon mit ein. Die Gäste wandten sich wieder ihren Unterhaltungen zu, doch Archer wusste genau, dass er durchaus mit einem Angriff rechnen musste. Starre Blicke bohrten sich in seinen Rücken, als er durch die Schenke schritt. Er ging mit eingezogenem Kopf, weil die gehobelten Deckenbalken zu tief hingen, sodass er sich nicht daran stieß.
Er konnte nur ahnen, welchen Aufruhr es ausgelöst hätte, wäre er mit seinem schwarzen Zylinder, der Maske und seinem langen Umhang hier aufgetaucht. Heute war er wie einer von ihnen angezogen. Mit einer hüftlangen, dicken Wolljacke, wie sie unter Matrosen üblich war. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, die dicke Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und es mit einem Tuch umwickelt. Aber Matrosen waren ein abergläubischer Haufen. Bestenfalls hielten sie ihn für das Opfer eines tragischen Unfalls, wodurch er automatisch Unglück brachte. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Er erinnerte sich daran, als er noch zur See gefahren war und selber diese Mischung aus Hilflosigkeit und Erregung gespürt hatte. Man brauchte schon einiges an Mut, um sein Leben den Händen dieser launischen Geliebten, dem Meer, anzuvertrauen.
Jetzt spürte er keine Furcht. Da war nur dieser Übelkeit erregende Knoten aus Hoffnung und Wut. Wut wegen Cheltenham. Seine Fäuste sehnten sich danach, auf irgendetwas einzuschlagen, wenn er daran dachte, dass der alte Mann wie ein Schwein abgeschlachtet worden war. Und Hoffnung. Dieses Gefühl hatte ihn nicht mehr losgelassen, seitdem Leland ihm eine Nachricht geschickt hatte, in der etwas über Dover Rye, Hector Ellis’ alten Verwalter und Kapitän stand. Offensichtlich hatte Dover Ellis die ganze Zeit über, während er bei ihm angestellt gewesen war, bestohlen. Kleine Diebereien, wie sie unter Langfingern üblich waren. Dover war Kapitän der
Rose
gewesen, als Archers Schiff auf See überfallen worden war. Nur Dover lebte noch. Die ganzen Jahre hatte er sich in irgendwelchen Schänken versteckt.
Der Mann hinter der Bar ließ den näher kommenden Archer nicht aus den Augen. Ein großer Kerl mit einer Brust so breit wie ein voll im Wind stehendes Segel, Armen, die an Masten erinnerten, roten Haaren und von der
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