Kuss des Tigers - Eine unsterbliche Liebe
nicht tragen. Ich kann gehen.«
Er lächelte. »Du warst müde, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken. Außerdem sind wir bereits da.«
Hier draußen war es immer noch dunkel, doch am östlichen Horizont war ein erster Schimmer zu sehen. Die Statue war genau so, wie wir sie verlassen hatten – mit glühenden roten Schlangenaugen und Nebel, der aus ihrem Maul sickerte. Wir standen einen Moment im Torbogen. Augenblicklich spürte ich, dass sich etwas bewegte. Es war Fanindra. Sie schwoll zu ihrer ursprünglichen Größe an und wand sich von meinem Arm.
Ren beugte sich mit mir im Arm tiefer herab, damit sie sich behutsam auf den Boden gleiten lassen konnte. Sie schlängelte sich zur Statue und glitt hinauf zu den Schlangenköpfen.
Von den Stufen aus beobachteten wir, wie sie sich über und unter den sieben Schlangen hindurchwand. Während sie an ihnen vorbeihuschte, erwachten auch die steinernen Schlangen zum Leben und krümmten und bogen sich. Die eingerollten Leiber, auf denen die Statue saß, verwandelten sich langsam in schuppiges Fleisch.
Fanindra bahnte sich einen Weg hinab und kam zurück zu Ren und mir, wo sie erstarrte und zu ihrer goldenen Armreifform schrumpfte. Ren setzte mich ab und ging hinüber, um sie aufzuheben. Vorsichtig streifte er sie mir über den Arm, lächelte mich an, fuhr dann die Kratzer auf meinem Arm sanft nach und runzelte die Stirn. Er hauchte einen Kuss auf meine Haut und verwandelte sich wieder in einen Tiger.
Wir gingen auf die Statue zu. Der sich windende Schlangenleib glitt hin und her, rekelte und streckte sich und hob dabei die Statue immer höher in die Luft, langsam und bedächtig, bis darunter ein schwarzes Loch zum Vorschein kam. Die Statue wurde so weit vom Boden gehoben, bis genug Platz für Ren und mich war, um in die Öffnung zu klettern.
Als ich in das Loch spähte, konnte ich eine Steintreppe ausmachen, die in die Dunkelheit führte. Der Mund der Statue hörte mit einem Schlag auf, Rauch auszuspucken, und begann stattdessen, ihn wieder einzusaugen. Nebelschwaden fegten an uns vorbei, verschwanden im Mund der Statue und sickerten in das Loch. Ich schluckte und richtete die Taschenlampe auf die Stufen. Wir stiegen über den dicken Schlangenleib und tauchten in einen Schleier aus nebelhaften Schatten hinab.
Wir hatten den Eingang nach Kishkindha gefunden.
20 · Prüfungen
20
P r ü funge n
V orsichtig gingen wir die Steinstufen hinab, vollkommen von dem schwachen Licht meiner winzigen Taschenlampe abhängig. Als wir den Fuß der Treppe erreichten, begannen Fanindras Augen zu leuchten und tauchten den Tunnel in ein unheimliches schimmerndes Grün.
Ich hielt Ren auf und las Durgas Prophezeiung laut vor.
Am unteren Rand der Seite waren Mr. Kadams handschriftliche Anmerkungen in seiner gewohnt ordentlichen Schrift. Ich las laut vor:
Miss Kelsey,
Sie müssen viele Prüfungen bestehen, wenn Sie Kishkindha betreten, seien Sie also auf der Hut. Ich erinnere Sie ebenfalls an die Warnung von Durga. Sie sagte, Sie sollen in Rens Nähe bleiben. Sollten Sie aus irgendeinem Grund getrennt werden, drohen Ihnen große Gefahren. Außerdem sagte sie, Sie dürfen Ihren Augen nicht trauen. Ihre Herzen und Seelen werden Ihnen den Unterschied zwischen Illusion und Realität zeigen. Als Letztes meinte sie noch, dass Sie die Frucht gut verstecken müssen, sobald sie in Ihren Besitz kommt.
Bhagyashalin!
Möge das Glück auf Ihrer Seite sein!
Anik Kadam
Ich murmelte: »Ich habe keine Ahnung, was diese Gefahren sein mögen. Hoffentlich handelt es sich bei den dornigen um eine Art Pflanze.«
Wir marschierten los, und ich plapperte den ganzen Weg vor mich hin, welche Tiere Dornen hatten. »Mal sehen. Es gibt Stegosaurus. Nein, Stegosaurier. Hm, vielleicht heißt es Stegosauri. Nun ja, wie auch immer der Plural lautet, gab es mal diese Dinosaurier. Dann sind da noch Drachen, Stachelschweine, und nicht zu vergessen die Krötenechsen. Wenn ich mir ein stacheliges Tier aussuchen dürfte, wäre das meine erste Wahl. Oh! Was ist, wenn die Krötenechsen riesengroß sind, mit gewaltigen, klaffenden Mäulern? Sie könnten uns mit einem Happs verschlingen. Vielleicht sollte ich die Gada aus dem Rucksack holen, hm?«
Ich blieb stehen und holte sie heraus. Die Wanderung war zwar auch ohne die Keule in der Hand schon beschwerlich genug gewesen, aber sie gab mir ein Gefühl der Sicherheit.
Der Tunnel wurde zu einem steinigen Pfad, und je weiter wir kamen, desto heller wurde
Weitere Kostenlose Bücher