Kuss im Morgenrot: Roman
das verwirrende Gefühl zurück, zu spät zu sein, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben wie ein Theaterbesucher, der im falschen Moment applaudiert. Sie konnte nicht angemessen trauern, weil sie die passende Gelegenheit dazu versäumt hatte.
Sie lebten damals in einem kleinen Haus in Marylebone in einer heruntergekommenen, aber anständigen Wohnung. Diese befand sich zwischen einer Zahnarztpraxis, von deren Schild ein vergrößertes Modell eines menschlichen Gebisses hing, sowie einer aus privaten Geldern finanzierten Mitgliederbibliothek. Die Bibliothek wurde von ihrer Großmutter geführt, die jeden Tag dorthin zur Arbeit ging.
Das gut besuchte Gebäude mit seiner riesigen verborgenen Sammlung an Büchern war für sie damals der verlockendste Ort der Welt. Catherine starrte oft aus ihrem Fenster zur Bibliothek hinüber und stellte sich vor, wie wunderbar es wäre, durch die Räume mit all den alten Büchern zu streifen. Gewiss roch die Luft in den Räumen nach Pergamentpapier und Leder und Bücherstaub, ein Duft von Gelehrsamkeit und Weltwissen. Sie hatte Althea erzählt, dass sie eines Tages dort arbeiten wolle, eine Aussage, für die sie nur ein sonderbares Lächeln erntete sowie das Versprechen ihrer Tante, dass dies sicher einmal der Fall sein würde.
Doch trotz des Schildes über der Tür, das ganz klar darauf hinwies, dass es sich um eine Bibliothek für Gentlemen von Rang und Namen handelte, war Catherine nach und nach bewusst geworden, dass etwas an dem Ort komisch war. Die Männer verließen das Gebäude, ohne jemals auch nur ein einziges Buch mitzunehmen.
Wann immer Catherine diese Ungereimtheit ansprach, reagierten Althea und ihre Großmutter gereizt, so wie sie auch reagiert hatten, als sie sie nach ihrem Vater gefragt hatte und danach, ob er sie eines Tages wieder abholen würde.
Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie zwei neue Kleider bekommen. Ein blaues und ein weißes, mit langen Röcken, die bis zum Boden reichten, und einer Taille, die mit ihrer eigenen übereinstimmte, anstatt eines ihrem Alter entsprechenden hohen Taillenansatzes. Von jetzt an, hatte Tante Althea ihr erklärt, würde sie sich das Haar hochstecken und sich wie eine Frau benehmen. Sie sei nun kein Kind mehr. Catherine begegnete ihrem unerwarteten Aufstieg mit Stolz, aber auch mit Sorge und Unsicherheit, was genau von ihr erwartet wurde, nun, da sie eine Frau geworden war.
Doch Altheas Unterweisungen waren noch nicht zu Ende. Ihr langes schmales Gesicht wirkte härter als sonst, und ihr Blick schien Catherines auszuweichen, als sie ihr erklärte, dass die Einrichtung nebenan wie erwartet keine Bibliothek war, sondern ein Bordell, in dem sie selbst arbeitete, seit sie zwölf war. Die Tätigkeit sei angenehm einfach, hatte sie Catherine versichert … sie brauchte den Mann lediglich gewähren zu lassen, während sie in Gedanken ganz woanders sein konnte, und dann das Geld einzustecken. Ganz egal, was seine Wünsche waren oder wie er ihren Körper benutzte, die Unannehmlichkeiten seien relativ gering, solange man sich nicht widersetzte.
»Ich will das aber nicht tun«, hatte Catherine gesagt und war erbleicht, als sie begriff, welchen Rat man ihr soeben gegeben hatte.
Althea hatte die gezupften, geschwungenen Brauen hochgezogen. »Für welche andere Tätigkeit, glaubst du, bist du geeignet?«
»Für jede andere, nur nicht diese.«
»Du schafsköpfiges Mädchen, weißt du eigentlich, wie viel wir für deinen Unterhalt aufbringen mussten? Hast du eine Vorstellung, welche Opfer es uns gekostet hat, dich bei uns aufzunehmen? Natürlich nicht – du denkst, das waren wir dir schuldig. Aber jetzt ist es an dir, es uns zurückzuzahlen. Wir verlangen von dir nichts anderes, als ich selbst tun musste. Oder hältst du dich vielleicht für etwas Besseres?«
»Nein«, antwortete Catherine, und Tränen der Scham liefen ihr über die Wangen. »Aber ich bin keine Prostituierte.«
»Jeder Mensch kommt mit einer Bestimmung auf die Welt, meine Liebe.« Altheas Stimme war ruhig, sogar freundlich. »Manche werden in privilegierte Verhältnisse hineingeboren, andere sind mit einem künstlerischen Talent oder natürlicher Intelligenz gesegnet. Du aber bist in jeder Hinsicht leider mittelmäßig … mittelmäßig intelligent, mittelmäßig geistreich und ohne eine herausragende Begabung. Was du jedoch geerbt hast, ist Schönheit und das Wesen einer Hure. Demnach wissen wir, welcher Art deine Bestimmung ist, nicht wahr?«
Catherine
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