Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
dich.«
»Ja.«
»Es gibt viele Gründe, warum man seine Identität aufgibt. Ein paar von uns sind ohne geboren – es gibt immer wieder Frauen, die ihre Kinder hier aussetzen. Tempelhuren tun das gerne.«
Ich schnappte nach Luft. Das war ja ungeheuerlich.
»Natürlich auch die, denen man die Identität genommen hat – vermutlich Verbrecher in deiner Auslegung.«
»Vermutlich. Mörder? Vergewaltiger? Gewalttäter?«
»Nein, Diebe, Betrüger, Hehler. Die Gewaltverbrecher werden deportiert.«
»Ja, natürlich. Ich hatte nur gedacht … «
»Nein, Princess, wir mögen ein verlorenes Gesindel sein, Mörder dulden auch wir nicht unter uns. Aber es gibt etliche, die mit dem Leben in der Civitas nicht zurechtkommen. Die der permanenten Überwachung und medizinischen Betreuung entfliehen wollen, weil sie mehr Drogen oder Alkohol zu sich nehmen möchten, als ihnen erlaubt wird, weil sie Krankheiten haben, die nicht geheilt werden können. Oder sie haben Ungerechtigkeiten erlebt, die sie nicht tolerieren können. Auch solche, die das politische System ablehnen, kommen zu uns. Vor allem Männer, die mehr Rechte für sich verlangen, und Wissenschaftler, deren Forschungen nicht gebilligt werden. Wir sind ein gemischter Haufen, Princess.«
»Kranke kommen hierher?«
»Behinderte oder Gendefekte zum Beispiel, die lieber nicht wissen wollen, wann ihr Leiden zuschlägt, und sich daher den ständigen Untersuchungen entziehen.«
Ich klammerte mich an die Tischkante.
Es gab andere wie mich.
Ich war nicht allein mit meinem Wunsch, ohne ständige Aufsicht zu leben – oder zu sterben.
»Princess, wir geben unsere Identität ab, das mag dir sonderbar vorkommen und als Verlust erscheinen. Aber hier in diesen Gruppen, den Clans der Subcultura, erhältst du irgendwann etwas dafür zurück. Vielleicht deine Seele.«
Damit wandte sie sich ab und ließ mich sprachlos stehen.
Ria tauchte stattdessen auf, sie schleppte einen Sack Kartoffeln herbei.
»Hast du den Waschraum und die Toiletten geputzt?«
»Nein. Ich hab hier gewischt.«
»Sieht man nicht viel von. Hoffentlich klappt das mit dem Kartoffelschälen besser.«
Ich war so verstört von dem, was Lennie mir gesagt hatte, dass ich widerstandslos das Messer nahm und an den Knollen herumschabte. Langsam und nicht sehr geschickt, wie ich feststellte, als ich Ria beobachtete. Aber sie sagte nichts dazu.
Mittags kam Reb in die Kantine. Er hatte sich gewaschen und andere Kleider angezogen. Sein Gesicht schillerte in allen Farben, und er bewegte sich schwerfällig. Ich bemerkte, dass die anderen Männer ihm keine Feindseligkeit mehr entgegenbrachten und ihn in ihre Gespräche einbezogen. Ich füllte gerade auf Rias Geheiß hin Teller und Schüsseln mit Kartoffelbrei und Hackfleisch, als jemand mit einem roten Zettel in der Hand in den Raum kam und ihn an eine Wand pinnte.
»Warnung, Leute. Es ist mal wieder eine Seuche ausgebrochen.«
»Ach nee?«, meinte jemand.
»Ja, ja. Eine ganz neue Krankheit, die sich in der Stadt ausbreitet. Das Gesundheitsministerium zeigt sich betroffen und verspricht alles zu tun, um die Bedrohung einzudämmen. Es gibt einen Aufruf zur allgemeinen Impfung.«
»Toll«, war der einzige Kommentar.
»Eine Seuche?«, flüsterte ich entsetzt und ging zu dem roten Zettel. Ein Flugblatt – wer verteilte denn noch Flugblätter? Das war eine ganz altertümliche Art der Informationsverbreitung. Aber Bildschirme, KomLinks und andere derartige technische Geräte hatte ich hier unten auch noch nicht gesehen. Vermutlich musste man Nachrichten auf diese Weise verbreiten.
Ich las den Text.
Seit fünf Tagen waren erst vereinzelt, dann in der Region um die U-Bahn-Station Alice-Schwarzer-Platz etliche Masernfälle aufgetreten, die sich als lebensbedrohlich erwiesen hatten. Mehrere Mitglieder der Civitas waren bereits unter Quarantäne gestellt worden. Impfungen wurden in allen Stadtvierteln in den Arztpraxen angeboten. Der Verdacht bestand, dass die Quelle der Seuche in den Quartieren der Subcults zu suchen sei. Man plane entsprechende Desinfektionsaktionen.
SEUCHENDROHUNG
W as heißt Desinfektionsaktionen?«, fragte ich die Umstehenden.
»Sie werden versuchen, uns auszuräuchern.«
Ich war schon wieder sprachlos.
»Ausräuchern?«
»Sie lassen Gas in die alten U-Bahn-Tunnel strömen und versiegeln sie. Es wird eine Weile arg stinken, dann verfliegt das Zeug, und wir brechen die Versiegelung auf. Ist weiter kein Drama.«
»Blöd ist nur, dass wir während
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