L wie Liquidator
hohen, fensterlosen Wänden. Auf ihnen erschienen und verschwanden bunte Flecken, mal formlos, dann wieder in geometrischen Anordnungen, die erstaunlich harmonische Muster bildeten.
Der Saal war völlig leer, wenn man das Bett oder die Liege, auf der Rost ruhte, nicht zählte. Er ließ den Blick noch einmal umherschweifen, bemerkte aber nirgends eine Tür. Ein goldener Käfig, fuhr es ihm durch den Kopf.
Dieser Gedanke löste in ihm keine Unruhe aus. Er wurde nur wacher und war bereit, jeder Gefahr die Stirn zu bieten. Er versuchte sich niederzusetzen und stellte mit Staunen fest, daß die Lähmung und der Schmerz, die noch vor kurzem jede Bewegung begleitet hatten, spurlos verschwunden waren. Er fühlte, wie ihn ein unaufhaltsamer Wille ergriff, zu prüfen, ob die Fußlähmung nachgelassen hatte. Er stand auf, stützte sich vorsichtig auf den Händen ab, doch nichts deutete darauf hin, daß ihm die Füße den Gehorsam verweigerten. Wie war es denn dazu gekommen? Während der mehrjährigen Reise hatte ein Muskelschwund eingesetzt. Unmöglich, daß es von einem Tag auf den anderen zu einer solchen radikalen Veränderung käme. Dazu bedurfte es vieler Wochen, wenn nicht Monate und Jahre … Er machte einige Schritte zur Wand hin, torkelte leicht, doch gewann er sofort das Gleichgewicht wieder. Er konnte gehen! War das möglich? Um die körperliche Form wiederzugewinnen, bedarf es langwieriger Übungen. Er erinnerte sich an nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß er solche Übungen betrieben hatte. Er verspürte Unruhe, doch unterdrückte er sie mühelos. Offenbar hing die Gedächtnislücke mit dem Heilungsprozeß zusammen. Es hatte nicht den Anschein, als hegten diese die Welt regierenden Wesen, trotz ihrer Fremdartigkeit, deren Anzeichen sie gelegentlich schon erlebt hatten, ihnen gegenüber schlechte Absichten. Im Grunde genommen war er ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Ihm fiel in diesem Augenblick ein, ob sie wohl seine Gedanken kontrollierten? Und ob er überhaupt imstande sei, sich das vorzustellen? Es beunruhigte ihn. Langsam, noch unsicher mit den Füßen auftretend, ging er durch den Saal: eins, zwei, drei. Erstaunlich schnell gewann er an Übung. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch nicht von seinem eigenen Zustand gefesselt, sondern von dem unaufhörlichen Farben- und Formenspiel an den Wänden des Atriums. Unruhig fragte er sich, ob es sich nur um eine dekorative dynamische Komposition handelte, deren Wandlungen vom Zufall bestimmt wurden, oder ob es doch etwas mehr war als ein Kunstwerk.
Er konnte den Sinn dessen, was vor seinen Augen vor sich ging, nicht entdecken, doch verspürte er intuitiv gewisse Gesetzmäßigkeiten in den sich wandelnden Bildern. Gleichzeitig wurde er gewahr, daß ihm das bloße Verfolgen dieser Veränderungen Vergnügen bereitete, und die Gedanken schneller und freier liefen. Vielleicht gewannen sie sogar an Präzision?
War allerdings dieses Gefühl mehr als eine Illusion? Es ist ja bekannt, daß ein unter dem Einfluß von Narkotika stehender Mensch sich einbildet, daß er geniale Entdeckungen macht, in Wirklichkeit aber Binsenweisheiten wiederholt oder Unsinn ausspinnt. Wenn er sich darüber doch Gedanken machte, bezeugte diese Tatsache, daß er der aufgezwungenen Suggestion nicht unterlegen war. War aber das, woran er dachte, nicht auch bloß eine aufgezwungene Suggestion? War er überhaupt imstande, etwas objektiv zu beurteilen, und den »Zauberbann« der eigenen Psyche zu durchbrechen?
Ringsum herrschte absolute Stille. Er schlug mit dem Schuh gegen den Fußboden, aber kein Klang erreichte seine Ohren. Darin lag etwas, was seiner Natur zuwiderlief, was seine aus den Sinneseindrücken kommende Ruhe trübte. Unbewußt wollte er diese Leere füllen, indem er aus dem Gedächtnis alte, längst vergessene Erlebnisse hervorholte. Vor seinen Augen stand der Konzertsaal. Ein Orchester, ein Musiker am Klavier … Er wollte in seiner Phantasie die gehörte Melodie wiedergeben, doch das Gedächtnis brachte nur einen starrsinnigen, scharfen, fast mechanischen Rhythmus hervor. Er verspürte eine undefinierbare Unruhe. Wenn Helia und Mia mit ihm zusammen gewesen wären … Die Konfrontation der Wahrnehmungen – auch das ist ein Test. Jetzt vergegenwärtigte er sich deutlicher: die Unruhe wurde von der Einsamkeit ausgelöst. Er wurde von dem heftigen Wunsch erfaßt, die letzten ihm nahen Wesen zu sehen. Der Wunsch nach einem Gespräch, nach einem ganz gewöhnlichen Gespräch
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