Lady Helenes skandaloeser Plan
verdrängte Helene die Erinnerung an dieses Fiasko.
Saunders, Helenes Kammerzofe, zeigte sich ob der Verwandlung ihrer Herrin deutlich verwirrt. Während sie Kleider faltete, warf sie immer wieder verstohlene Blicke auf die Gräfin. »Möchten Sie, dass ich Ihnen Locken brenne, Mylady?«, fragte sie und wedelte mit der Brennschere. »Wir könnten Ihnen ein Stirnband umbinden und ein paar Locken machen, und dann würden Sie ganz, ganz …« Saunders konnte sich nicht dazu überwinden, »modern aussehen« zu sagen. Die aktuelle Mode schrieb Ringellocken vor, die über die Ohren baumelten, und Lady Godwin besaß nicht einmal mehr genug Haar für
eine
Locke.
Helene lächelte und nahm vor der Frisierkommode Platz. »Mir gefällt mein Haar so, wie es ist. Haben wir Rouge, Saunders?«
»Nein, Mylady.«
Helene biss sich auf die Unterlippe. Ihre Wangen waren gespenstisch bleich.
»Aber Mrs Crewe besitzt etliche Tiegel«, sagte Saunders unerwartet. »Soll ich sie holen?«
»Mrs Crewe?«, fragte Helene erstaunt, der das Bild der steifen Haushälterin ihrer Mutter vor Augen stand. »Ich glaube nicht, dass ich Mrs Crewe jemals geschminkt gesehen habe!«
»Sie konfisziert das Rouge der Dienstmädchen«, erklärte Saunders. »In diesem Haus ist natürlich keinerlei Schminke erlaubt. Aber alle Jubeljahre einmal, wenn sie guter Laune ist, holt Mrs Crewe den Korb hervor und gestattet der Küchenmagd, abends etwas aufzulegen. Ich habe das selbstverständlich seit Jahren nicht mehr getan.« Saunders hatte ein starkes Gefühl für persönliche Würde entwickelt, seit sie vor fünf Jahren zur Kammerzofe befördert worden war.
Einige Augenblicke später stellte sie den großen Weidenkorb auf den Boden. »Ach je«, sagte Helene fasziniert. Sie nahm eine kleine Blechbüchse aus dem Korb.
»Das ist chinesische Schminke«, sagte Saunders gewichtig. »Zu dunkel für Sie, Mylady.« Sie wühlte im Korb herum. »Wenn ich mich recht erinnere, müsste da auch ein Kästchen aus rotem Sandelholz sein. Es gehörte dieser Lucy, die nur einige Wochen bei uns gearbeitet hat, bevor sie entlassen wurde, weil sie Mrs Crewes Brosche gestohlen hatte. Und die Schminke hat sie bestimmt von ihrer vorigen Herrin gemopst.« Saunders hielt ein rundes, mit Stiefmütterchen bemaltes Kästchen hoch.
»Das ist ein sehr hübsches Kästchen«, sagte Helene unsicher.
»Ich werde diese Farbe für Ihre Wangen nehmen«, verkündete Saunders. »Das dunklere chinesische Rouge kommt auf Ihre Lippen. Und hier haben wir auch schwarzen Weihrauch. Damit können wir Ihre Wimpern und auch die Augenbrauen schminken.«
»Meine Güte, Saunders«, sagte Helene und lächelte ihre Zofe an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so gut mit Gesichtsbemalung auskennen!«
Nach einer Weile trat Saunders einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. »Ich war an Ihre Zöpfe gewöhnt«, sagte sie zögernd. »Aber das kurze Haar macht Sie um Jahre jünger. Im Dienstbotentrakt sagen das alle.«
»Dann ist es ja gut.« Helene lebte ein wenig auf.
Saunders strich fachmännisch mit einem Bürstchen durch den Weihrauch. »Vielleicht möchten Sie morgen zu einem Parfümeur gehen. Henry und Daniel Rotely Harris, zu denen gehen alle vornehmen Damen. Die können Ihnen Schminke ganz nach Ihrem Typ anfertigen.«
»Meine Güte«, sagte Helene mit schwacher Stimme. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas gibt.«
Saunders machte sich mit der winzigen Bürste an Helenes Augenbrauen zu schaffen. Helene musste zugeben, dass die Veränderung dramatisch war. Ihre Brauen erschienen plötzlich wie zwei hochgewölbte Bögen, die ihre Augen betonten.
»Und jetzt die Wimpern, Mylady?«, fragte Saunders. »Wenn Sie bitte die Augen schließen würden …«
Gehorsam machte Helene die Augen zu. Als sie sie wieder aufschlug, schnappte sie vor Überraschung nach Luft. Ihre langweiligen grauen Augen hatten sich in Edelsteine verwandelt, die grün und verführerisch wie die Augen einer Nixe funkelten. Und ein Hauch von Rouge auf ihren Wangen betonte die Herzform ihres Gesichts.
»Oh, Madam!« Saunders war sichtlich von ihrem Werk beeindruckt. »Sie sehen hinreißend aus!«
»Dank Ihnen«, lächelte Helene. Es ging also doch! Die Schminke half. Die schüchterne, magere Frau, die Walzer komponierte und nie zum Tanz aufgefordert wurde, war nun hinter den Farben auf ihrem Gesicht verborgen. Die bleiche, scheue Helene, die geweint hatte, als ihr Mann ihre Brüste verspottete, hatte sich hinter einer Maske
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