Lady Helenes skandaloeser Plan
werden wie Sie, Mrs Fishpole!«
Worauf ein herzzerreißendes »
Bitte?«
folgte.
Nachdem sie zehn Minuten lang dem Hämmern an der Haustür gelauscht hatte, begriff Lina, dass Leke den Dienstboten den Abend freigegeben hatte. So machte sie sich selbst auf den Weg nach unten, nur mit ihrem französischen Negligé bekleidet. Sie hoffte, es wäre einer von Rees’ prüderen Bekannten, damit sie sich an seiner Verlegenheit weiden konnte.
Sorgsam zupfte sie das Negligé zurecht, damit alle ihre Vorzüge bestens zur Geltung kamen, und öffnete schwungvoll die Haustür.
Doch vor der Tür stand einer, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war ein Mann in einem staubigen schwarzen Reisemantel, der ein schluchzendes Kind im Arm hielt. Hinter ihm lungerte ein verdrießlicher Stallknecht mit zwei Kisten auf den Schultern.
»Wer zum Teufel sind denn Sie?«, herrschte Lina den Unbekannten an, obgleich sie ganz genau wusste, wer er sein musste. Rees hatte ja nur einen einzigen Verwandten auf dieser Welt, und der Ankömmling hatte Rees’ Nase und Mund. Aber Rees hatte nie erzählt, dass sein ach so sittsamer Bruder verheiratet war, und auch nicht, dass er mit einem Kind belastet war. Und vor allem hatte er nicht erwähnt, dass der Mann ihnen einen Besuch abstatten würde.
»Thomas Holland«, stellte er sich nun mit einer Verneigung vor. »Das ist Meggin, und das da ist mein Gepäck, da ich beabsichtige, einige Zeit bei meinem Bruder zu verbringen. Wichtiger jedoch, Madam, wer sind denn Sie?«
In diesem Augenblick sagte das Kind, das Linas Negligé mit seinen verquollenen Augen betrachtet hatte, mit erstickter Stimme: »Ich weiß, wer sie ist! Sie ist die Hure Babylon, das ist sie! Mrs Fishpole hat mir alles über sie erzählt. Sie haben Mrs Fishpole angelogen und mich zu einem Sündenhaus gebracht!« Und sie begann lauthals zu schreien und Rees’ Bruder ans Bein zu treten.
Lina zog eine Augenbraue hoch. Dies drohte eine äußerst komplizierte Angelegenheit zu werden. Sie öffnete die Tür ein wenig mehr und trat einen Schritt zurück. »Wenn ich es recht verstehe, wird der Herr Vikar auch wieder heimkehren«, sagte sie lieblich. »Wenn ich die Hure Babylon wäre, müsste ich dann nicht Scharlach und Rot tragen? Mal überlegen … Wenn ich die Hure Babylon wäre, müssten
Sie
dann nicht Johannes der Täufer sein?« Sie kicherte und schickte sich an, die Treppe hochzusteigen. »Vermutlich können Sie sich Ihr Schlafgemach aussuchen, obgleich ich Sie vorwarnen muss: Sie sind alle nicht allzu sauber. Und wie es in der Kinderstube aussieht, entzieht sich meiner Kenntnis.«
Während sie die Treppe hochstieg, musste sie sich bemühen, Meggins Wehgeheul zu übertönen. »Rees wird heute Abend irgendwann zurück sein, aber bis dahin müssen Sie sich schon selbst zurechtfinden.«
»Wo sind denn die Diener?«, fragte Rees’ Bruder verzweifelt.
Lina ging nicht auf seine Frage ein, blieb jedoch abrupt stehen. »Ich mag zwar nicht entsprechend gekleidet sein, aber mir ist gerade eingefallen, was die Hure Babylon singen würde. Papistische Hymnen, nicht wahr? Zumindest hätte mein Vater das behauptet. Leider kenne ich keine katholischen Kirchenlieder, deshalb müssen wir mit diesem hier vorlieb nehmen.« Und sie hob an und begann aus voller Kehle
O God, Our Help in Ages Past
zu schmettern.
Tom blickte wie betäubt zu ihr auf. Selbst Meggin hatte aufgehört zu weinen. Der Gesang hallte von den Wänden wider. Diese junge Frau besaß die prachtvollste Stimme, die Tom je gehört hatte, eine samtig-zarte und gleichwohl gefährliche Stimme. Da stand sie, am Kopf der Treppe, und grinste auf ihn herab, der Inbegriff einer gottlosen Dirne. Man konnte durch die pfirsichfarbene Seide ihren Körper schimmern sehen, das Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern, die roten Lippen lachten. »Jetzt kommt meine Lieblingsstrophe«, verkündete sie. »Geben Sie gut acht.
A thousand ages in Thy sight are like an evening gone. Short as the watch that ends the night before the rising sun
.« Sie drehte sich um und sang im Weitergehen. Die Worte wehten wie silberner Regen hinter ihr her, während sie den Korridor entlangschritt.
»Verflixt!«, brummte der Stallknecht. »Da haben Sie aber mal eine Verrückte. Was für ein Irrenhaus!«
Tom stand stocksteif da und starrte die Treppe hinauf. Er hatte das Gefühl, als habe man ihm einen Faustschlag versetzt. Er spürte zwar, wie Meggin an seiner Hand zerrte, und war sich bewusst, dass der Stallknecht
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