Lady Helenes skandaloeser Plan
ungewöhnlich«, sagte Tom bestürzt. »Findest du den Rest der Menschheit im Vergleich zu ihm fehlerhaft?«
»O nein«, gab sie ihm unter heftigem Kopfschütteln zu verstehen. »Es gibt nichts Ermüdenderes als Vollkommenheit. Ich hasse sie.«
»Wie meinst du das?«
»Egal, was ich als Kind getan hatte, egal, wie schlimm ich gewesen war – er war immer verständnisvoll und hat mir verziehen.«
Tom schwieg. Ihre Erfahrung unterschied sich so sehr von der seinen, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
»Ich weiß schon«, fuhr sie verärgert fort. »Es klingt nach dem Himmel auf Erden, um den angemessenen Ausdruck zu benutzen.«
Tom hob sie auf seinen Schoß. Das war doch sicher keine allzu intime Berührung? Einen Augenblick später war er anderer Meinung, denn er spürte,
worauf
ihr süßer kleiner Hintern saß.
»Die Zehn Gebote …
Er
hat sie stets getreulich befolgt«, erinnerte sie sich.
Tom versuchte sich abzulenken. Vor dem Fenster saß ein Eichhörnchen, das eine Nuss in den Pfötchen hielt. Es schaute zu ihnen herein und bewegte mümmelnd seine Backen.
»Das einzige Problem im Zusammenleben mit so einem Heiligen«, fuhr Lina fort, »ist, dass er Gott stets mehr liebt als dich.«
Tom schloss sie enger in seine Arme. Es konnte bestimmt nicht schaden, wenn er lediglich den Rand ihres Ohres küsste, der aus dem üppigen Haar hervorlugte.
»Einmal wurde ich dazu erkoren, die Hauptrolle im Krippenspiel zu singen«, erzählte sie. »Ich war ja so stolz! Ich sollte den Erzengel Gabriel singen und hatte die besten Soli. Ich habe wochenlang geübt.«
»Und du warst bestimmt großartig«, sagte Tom. Seine Stimme klang ganz heiser. Er ließ von ihrem Ohr ab. Gleich würde sie bestimmt merken, worauf sie Platz genommen hatte.
»Ich
hätte
vielleicht großartig gesungen. Doch am Abend vor dem Krippenspiel erwischte mich Vater, wie ich Hugh Sutherland hinter der Küchentür küsste. Natürlich war er entsetzt.« Sie schaute mit ihren schönen braunen Augen zu Tom auf. »Er betete zwei Stunden lang und teilte mir dann mit, er müsse mir meinen innigsten Wunsch versagen, da Gott die Wollust strengstens verbiete. Also kein Engel Gabriel.«
»Das tut mir leid«, flüsterte Tom und küsste ihre Nase und ihren Augenwinkel und die sanfte Rundung ihrer Wange.
»Doch das war noch nicht alles. Vater war der Meinung, ich würde das Lied an sich lieben und nicht seinen Inhalt. Seit ich ein kleines Mädchen war, hat er mir beigebracht, nicht meine Stimme zu mögen, sondern die Worte, die ich sprechen oder singen sollte.«
»Jauchzet vor dem Herrn, alle Länder der Erde«, steuerte Tom bei.
»Psalm einhundert«, bestätigte Lina müde. »An jenem Abend sagte er mir, ich dürfe den Gabriel nicht singen und auch das nächste halbe Jahr nicht. Kein einziges Lied.«
Tom hielt sie fest umfangen. Das war, als würde man einem Vogel das Singen verbieten.
»Ich war außer mir. Mutter flehte ihn an. Auch er hat es wohl bedauert. Aber er konnte nicht eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben, weil er das Verbot aus göttlichen Gründen erteilt hatte. Denn er hatte ein Gelübde abgelegt – dass er mir das Singen zum Wohl meiner Seele sechs Monate verbieten würde –, und dieses Gelübde durfte er nicht brechen, so töricht es auch war.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Nach Mitternacht habe ich mich dann aus dem Haus geschlichen und im Kuhstall meine Unschuld an Hugh Sutherland verloren.«
»Der Glückliche«, flüsterte Tom.
»Und am nächsten Tag habe ich um fünf Uhr morgens die Postkutsche nach London genommen. Ich war entschlossen, einen Ort zu finden, wo man mich bitten, nein,
anflehen
würde, meine Stimme zu hören.«
»Ach, mein Schatz«, sagte er und drückte sie an sich.
»Küsst du mich noch einmal, Tom?«
»Ich weiß nicht recht.« Er nagte an ihrem Ohr. »Ich empfinde das merkwürdige Verlangen, auf mein Zimmer zu gehen und einige heftige Gelübde abzulegen, damit ich sie morgen brechen kann.«
»Später«, sagte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Ich mag deine Küsse!«
»Bin ich denn geschickter als Hugh Sutherland?«, fragte er, während sein Mund über ihrem schwebte.
»Küss mich, und ich sage es dir«, hauchte sie, bevor sein Kuss ihr den Atem raubte.
23
Hochzeitspläne
Stadthaus von Lady Griselda Willoughby
Chandois Street Nummer 14
Cavendish Square
»Du musst unbedingt heiraten, Darling. Das ist deine Verpflichtung unserem Namen gegenüber. Und sicherlich kannst du dir den
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