Ladylike
im Frühling sieht der alte Geselle wie ein riesiger weißer Blumenstrauß aus, Bienen summen, Vögel zwitschern. Jetzt, Anfang Juli, fallen schon angefaulte und verhutzelte Kirschen herunter. Anneliese konnte nur einen Bruchteil ernten und zu Marmelade verarbeiten. Auch die Nachbarn, die herzlich zum Pflücken eingeladen wurden, kauften sich ihr Obst lieber im Supermarkt, ohne sich Hände und Hose beim Klettern schmutzig zu machen. So blieb genug für die Amseln übrig. Manchmal, wenn ich unter dem Baum sitze und lese, beobachtet mich ein neugieriges Eichhörnchen. Ich habe beschlossen, im Winter täglich eine Nuß auf das Fensterbrett zu legen, um eine behutsame Zähmung einzufädeln. Ein Haustier wollen wir uns nicht mehr anschaffen, aber die Freundschaft mit einem selbständigen Wildfang wäre eine reine Lust.
Erst 1954 ist Annelieses Papa als einer der letzten deutschen Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Vielleicht hat sie, weil sie mehr oder weniger nur unter Frauen aufgewachsen ist, einen ewigen Nachholbedarf an Beachtung, Lob und Anerkennung durch Männer. Eigentlich war sie ja lange genug verheiratet, hat außer ihren beiden Töchtern auch zwei Söhne, aber trotzdem gerät sie in Anwesenheit eines Mannes stets ein wenig außer sich.
Ich nehme ihr den Diebstahl immer noch übel. Sie behauptet zwar, Brosche, Ring und Ohrgehänge seien vom Tisch direkt in ihren Schoß gerutscht, aber das mag glauben, wer will. Lange habe ich überlegt, ob ich sie bei Rudi anschwärzen soll, habe es aber bis jetzt nicht übers Herz gebracht. Durch das hektische Hin und Her am Ende haben die Russen offenbar gar nichts vermißt. Außerdem ist sich Anneliese sicher, daß die in Windeseile beschafften Moneten nicht ehrlich erworben sein können, und fühlt sich dadurch im Recht.
Still unter dem Kirschbaum sitzen und lesen, wie ich das liebe, das ist Annelieses Sache nicht. Wenn sie in den Garten geht, muß sie ständig herumpusseln, hier eine verwelkte Rose abschneiden, dort eine illegal eingewanderte Brennessel herausreißen. Aber sie hat inzwischen verstanden, daß ich meine Ruhe haben möchte. Es muß sich also um etwas Wichtiges handeln, wenn sie so temperamentvoll querbeet getrampelt kommt.
»Wir kriegen schon wieder Herrenbesuch!« ruft sie triumphierend. »Und diesmal gilt er mir!«
Ich soll raten, wer es ist, treffe aber mit keinem meiner Vorschläge ins Schwarze.
»Es ist Ewald!« sagt sie strahlend. Von dem hatten wir es doch neulich: ihr erster Verehrer aus der Tanzstunde, der Mensch mit der stinkigen Kordjacke.
»Du hast mir gar nicht erzählt, daß ihr noch Kontakt habt«, sage ich verwundert.
Tatsächlich hatte sie jahrzehntelang nichts von ihm gehört, beide waren weggezogen, hatten geheiratet und sich aus den Augen verloren. Zufällig waren sie sich nach fast fünfzig Jahren auf dem Friedhof der Heimatstadt begegnet, als sie die Gräber ihrer jeweiligen Eltern besuchten. Man plauderte eine Weile und tauschte ganz unverbindlich die Adressen aus. Seitdem herrschte Funkstille.
»Gerade hat er angerufen«, sagt Anneliese, »gestern hat er nämlich seine Frau in eine Heidelberger Klinik gebracht, und dabei ist ihm eingefallen, daß es nur knappe zehn Kilometer bis zu mir sind. Was blieb mir anderes übrig, als ihn zum Tee einzuladen!«
Da ich wenig Lust habe, den alten Knaben über seine kranke Frau jammern zu hören, beschließe ich, dieses Tête-à-tête nicht zu stören.
Erwartungsgemäß hat Anneliese nichts dagegen, daß ich sie mit ihrem Ewald allein lasse. Da es heute nicht sonderlich warm ist, beschließe ich, den Schloßpark zu durchwandern. Einer der Gründe, warum ich hierhergezogen bin, ist die zauberhafte Gartenarchitektur vergangener Zeiten. Zwar ist auch Annelieses Biotop zum Lesen und Kaffeetrinken ideal, aber ihm fehlt die Weite. Seit ich in Schwetzingen lebe, habe ich zudem das Gefühl, mich zu wenig zu bewegen. Nicht zuletzt wird es an Annelieses Küche liegen, daß ich mich nach jedem Essen wie ein Walroß fühle.
Der Park ist glücklicherweise in wenigen Minuten zu erreichen. Als Kurfürst Carl Theodor Mitte des 18. Jahrhunderts das Schloß als Sommerresidenz bewohnte, wurde mit dem Schloßgarten eine der schönsten europäischen Parkanlagen geschaffen.
Wie stets überquere ich zügig die Zähringer Straße, stecke meine Dauerkarte in den Automaten und passiere den südlichen Eingang, wo sich eine japanische Touristengruppe versammelt hat. Hinter dem
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