Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
über deinen Bruder, Alphart Wildfänger, sondern über dich. Und hast du erst erfahren, was der Druide schon weiß, so wirst auch du erkennen, dass dies nicht die rechte Zeit für persönliche Rache ist, so sehr es dich danach verlangen mag.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Zeigt es ihm, Majestät«, bat Yvolar den König. »Lasst ihn sehen, was Ihr mich habt sehen lassen. Führt ihm die Wahrheit vor Augen, damit er erkennt, wie es um uns und die Welt bestellt ist.«
»Es sei«, entschied Alwys und hob die rechte Hand, an welcher der jahrtausendealte Siegelring von Glondwarac funkelte. »Schließ deine Augen, Alphart Wildfänger«, verlangte er, »und du sollst sehen, was sonst nur den Ältesten und Weisen vorbehalten ist. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Ein Wildfänger fürchtet sich nicht«, behauptete Alphart mürrisch. »Vor nichts und vor niemandem.«
»Dann ist es ja gut«, sagte Alwys, und er sprach es mit einer Stimme, die Alphart nicht gefallen wollte. Er verspürte das jähe Bedürfnis, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Höhle des Zwergenkönigs rasch zu verlassen. Aber das konnte und wollte er nicht. Soeben hatte er behauptet, keine Furcht zu kennen, und außerdem brannte er darauf zu erfahren, was es mit den Erlen und der Bedrohung auf sich hatte, die so unversehens über Allagáin gekommen war. Also tat er, wie ihm geheißen wart, und schloss die Augen.
Schlagartig hatte er das Gefühl, von jenem blauen Licht umgeben zu sein, das aus der Tiefe des Sees sickerte. Blendend hell hüllte es ihn ein. Und obwohl Alphart wusste, dass er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, hatte er im nächsten Moment den Eindruck, als würde ihn das Licht hinabziehen in den kleinen See. Er kippte nach vorn, stürzte in ungeahnte Tiefen und durch klafterdicken Fels, während das Licht ihn weiterhin umhüllte.
Nicht in senkrechtem Sturz ging es hinab, sondern in einem wilden Zickzackflug, mal hierhin und mal dorthin, sodass Alphart schon bald die Orientierung verlor und nicht mehr wusste, was über ihm war und was unter ihm.
So unvermittelt, wie sie begonnen hatte, endete die Reise. Das Licht erlosch – und der Jäger fand sich an einem anderen, ihm unbekannten Ort wieder.
Das Erste, was Alphart fühlte, war die Kälte. Schneidende, erbarmungslose Kälte, die nicht nur von außen auf ihn eindrang, sondern auch aus seinem Inneren zu kommen schien.
Firnbedeckte Felswände umgaben ihn, von denen Eis in glasigen Zapfen hing. Alphart fror erbärmlich, sein Atem kondensierte in der kalten Luft, kaum dass er den Mund verließ, und er fragte sich, ob all dies wirklich war oder nur Blendwerk, das der Zwergenkönig ihm vorgaukelte.
Auf einmal hörte der Jäger das grässliche Schnauben – und er fühlte nackte Furcht. Kalt und hart wie Stahl bohrte sie sich in sein Herz, und Schweiß trat ihm trotz der Eiseskälte auf die Stirn. Wohin, bei den Gipfeln der Berge, war er nur geraten? Was war es, das so entsetzliche Laute verursachte, dass sie einen gestandenen Jägersmann bis ins Mark erschaudern ließen?
Vorsichtig setzte Alphart einen Fuß vor den anderen, um seiner Furcht zum Trotz die Quelle der fürchterlichen Laute zu ergründen. Je weiter er vordrang, desto dicker wurde die weiße Schicht, die den Fels der Höhle überzog. Eiszapfen spannten sich zwischen Decke und Boden und bildeten ein Labyrinth schillernder Säulen, zwischen denen sich der Wildfänger seinen Weg suchte. Erneut war das fürchterliche Schnauben zu hören und ließ das Eis klirren. Ein Knurren folgte, das Alphart keinem Tier aus Wald oder Flur zuordnen konnte. Jedenfalls keinem, mit dem er es bislang zu tun gehabt hatte…
Noch ein Stück schlich er weiter, dann lichtete sich der Wald aus Eis. Dahinter schien sich etwas zu regen – und im nächsten Moment erblickte Alphart die Kreatur, die dieses kalte Labyrinth bewohnte und aus deren Rachen die grässlichen Laute drangen. Der Herzschlag des Wildfängers wollte aussetzen, denn noch nie hatte er etwas Grässlicheres erblickt.
In einem Nest aus Glaskristallen lag ein ungeheurer Körper, groß und fett und dabei strotzend vor zerstörerischer Kraft. Auf dem Rücken des Untiers erhob sich ein Kamm scharfer weißer Zacken, die bis hinab zum Schwanzende reichten, das unruhig hin und her pendelte und dabei ein schauriges Pfeifen hervorrief, wie von kaltem Winterwind. Vier säulendicke Gliedmaßen ragten aus dem massigen blassen Körper der Kreatur, die in scheußliche Klauen ausliefen. Flügel
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