Land der Mythen 02 - Die Flamme der Sylfen
Seidenstoff ihrer Gewänder erblickte, denn dies musste bedeuten, dass es sich bei den Gefangenen um Adelige handelte. Ein halblauter Schrei entfuhr ihm, als er seinen Verdacht bestätigt sah, denn einer der Misshandelten war kein anderer als Sumag von Zell, wie an seiner Leibesfülle deutlich zu erkennen war – ein Angehöriger des Fürstenrates, der sich entschlossen hatte, nicht am Feldzug gegen das Waldvolk teilzunehmen, und sich unter allerlei Vorwänden beim Fürstregenten hatte entschuldigen lassen.
Seine Feigheit kam ihn teuer zu stehen.
Während andere Gefangene von der Mauer gestoßen wurden und zu Tode stürzten und auf diese Weise ein zwar grausames, aber rasches Ende fanden, schienen es die Erle auf den Herrn von Zell besonders abgesehen zu haben. Bei den Festessen, die an Klaigons Hof an der Tagesordnung gewesen waren und mit denen der Fürstregent seine Räte bei Laune gehalten hatte, war Sumag stets einer von denen gewesen, die besonders beherzt zugelangt hatten; sein mächtiger Wanst schien selbst den menschenfressenden Unholden zu fett zu sein. Entsetzt beobachten Meinrad und seine Leute, wie sie den Unglücklichen an den Armen fesselten und an ein langes Seil banden, um ihn dann ebenfalls von der Mauerbrüstung zu stürzen.
Als das Seil seinen Sturz abrupt abfing, riss es ihm die Arme aus den Gelenken, und er schlug gegen die Mauer, so hart, dass er sich mehrere Knochen brach. Sein Schmerzensschrei gellte über den See, was die Erle mit derbem Gelächter quittierten, worauf sie ihn wieder heraufzogen, um ihn anschließend noch einmal hinabzustürzen. Dann noch einmal.
Und noch einmal.
Solange, bis das Kreischen des Herrn von Zell verstummt und nur noch ein schauriges Geräusch zu hören war, wie wenn Dutzende zerschmetterter Knochen in einem Sack gegeneinanderschlugen.
Von Grauen geschüttelt, wandte sich Meinrad von Kean d’Eagol ab. Er hatte genug gesehen.
Genug, um zu wissen, mit welcher Sorte Gegner sie es zu tun hatten. Genug, um zu wissen, dass dieser Feind keine Gnade verdiente – und sie auch nicht gewähren würde…
Lautlos bedeutete er seinen Männern, sich zurückzuziehen, damit sie den Heeresführern Bericht erstatten konnten. Die Lage war noch ungleich schlimmer, als sie es erwartet hatten.
Aus Iónador war eine Blutfeste geworden.
28
Es war eine unwirkliche Welt, durch die sich der Wildfänger und der Druide bewegten.
Über den Abstieg waren sie in einen Stollen gelangt, der in das jahrtausendealte Eis geschlagen war. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten sie, dass es nicht völlig finster war; Sonnenlicht drang durch die Eisschichten und ließ sie in matten Grau- und Violetttönen schimmern. Je weiter es jedoch in die Tiefe ging, desto spärlicher wurde das Licht, sodass Yvolar schließlich seinen Stab benutzen musste, dessen oberes Ende aufglühte. In seinem fahlen Schein bewegten sie sich durch einen an die acht Ellen breiten und ebenso hohen Gang, der durch das Eis getrieben worden war. Mit den Stollen und Hallen Glondwaracs ließ er sich freilich nicht vergleichen, vielmehr sah es so aus, als hätten Muortis’ Diener die Bergbaukunst der Zwerge nachzuäffen versucht und wären dabei kläglich gescheitert. Nicht handwerkliches Können und kräftiger Hände Arbeit hatten dem Berg die Passage abgetrotzt, sondern brachiale Gewalt.
Dort, wo die unterste Schicht des Ferners den Fels bedeckte und das Tageslicht nur noch eine schwache, grau schimmernde Erinnerung war, ging der Stollen in einen fast senkrecht abfallenden Schacht über. Ungleichmäßige Stufen, die zueinander in schiefen Winkeln standen, wanden sich in bodenlose Tiefe, in der ewige Nacht herrschte.
»Dort hinunter müssen wir«, verkündete Yvolar grimmig, auch wenn es eines solchen Hinweises nicht bedurft hätte. Alphart kam es vielmehr so vor, als sei der Prophet vom Urberg am Ende seiner Weisheit angelangt. Je näher sie Muortis’ Reich gekommen waren, desto mehr war Yvolars Macht geschrumpft. Zu Beginn ihrer Reise, im fernen Damasia, war sie Alphart noch unheimlich und beinahe grenzenlos erschienen – inzwischen hatte er fast den Eindruck, als wäre der alte Mann kein zauberkundiger Druide mehr, sondern ein gewöhnlicher Greis, ein Sterblicher wie jeder andere Mensch. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass er sich ihm in diesem Augenblick näher fühlte als an jedem anderen Punkt des langen und gefahrvollen Weges, den sie hinter sich gebracht
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