Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
und berührte eines der Seile, an dem der Kadaver eines Eichhörnchens hing. »Hast du die alle gefangen?«
»Ja. Das kann ich gut.«
Die beiden Ratten waren offensichtlich von Bolzen getroffen worden, die vermutlich sie abgeschossen hatte. Doch der Kaninchenkadaver war mindestens schon acht Tage alt und bereits nicht mehr von Maden befallen. William griff nach dem Seil, zog das Kaninchen hoch und sah es sich an. Seine Nase verriet ihm, dass er nichts Essbares vor sich hatte – dem Kadaver haftete etwas Krankhaftes an.
Wasserratten waren hässlich, Kaninchen hingegen niedlich. Sie würde bestimmt auf keines schießen. Wahrscheinlich hatte sie den toten Körper irgendwo gefunden. Ein Gestaltwandlerkind hätte kein Problem damit, ein Kaninchen zu töten. Das Fleisch schmeckte gut, vielleicht ein bisschen süß.
William ließ das Seil los. »Willst du sie essen?«
Sie reckte ihr Kinn. Er hatte offenbar einen Nerv getroffen. »Yep!«
»Schön, dann sag ich dir mal was. Eichhörnchen kann man nicht gut essen. Man kann sie höchstens für Eintopf verwenden, aber selbst dann sind sie noch mager und stinken. Dasselbe bei Ratten. Iss bloß keine Ratte. Die übertragen eine Krankheit, von der du Fieber, Krämpfe und Schüttelfrost bekommst, dann werden deine Haut und deine Haare gelb. Alles, was da hängt, ist zum Essen schon zu stark verwest, an dem dort haben die Vögel herumgepickt, und das da ist voller Maden. Dein Fisch hängt zu nah am Baumstamm und hat Flecken – das kommt daher, weil die Ameisen aus dem Hügel dort drüben den Baum hochgekommen sind und deine Beute angefressen haben.«
Larks Augen wurden groß wie Untertassen.
William zog am nächsten Seil und hob das Hermelinding hoch. »Was das ist, weiß ich nicht genau …«
»Ein Moorwiesel. Es hat die Eichhörnchen gerissen und ihre Babys aufgefressen.«
Das erklärte einiges. Das Wiesel hatte ein Nest geplündert und war dafür bestraft worden. »Das würde ich auch nicht essen«, sagte William. »Außer, ich hätte sehr großen Hunger. Aber es ist noch frisch, geht also so gerade noch.«
Er schnitt den toten Körper vom Seil und legte ihn auf den Baum. »Man hängt Sachen auf, damit das Blut rausläuft, sie auskühlen und Geschöpfe wie die Dumpfbacke da unten einem nicht das Essen wegfressen. Wenn du ein Geschöpf tötest, um dich selbst davon zu ernähren, musst du es mit Respekt behandeln und nicht einfach vergeuden.« Er brach den Kadaver auf. »Zuerst musst du die Innereien herausnehmen. Das nennt man Ausweiden. Beim Magen und dem Gedärm musst du gut aufpassen, die solltest du nicht anschneiden. Das hier rechts ist die Leber. In dieser dunklen Blase ist Galle. Wenn du da drankommst, kannst du das Ganze vergessen. Das Fleisch wird dann ungenießbar bitter.«
Er ließ die Innereien auf die Erde fallen und schüttelte das Wiesel, damit das alte Blut herauslief.
»Jetzt musst du es häuten. So. Wenn du etwas Fett dranlässt, trocknet das Fleisch nicht aus. Und du musst die Fliegen fernhalten. Stibitz dir eine Büchse schwarzen Pfeffer und streu den über das Fleisch. Das mögen die Fliegen nicht.« Er zog das Fell ganz ab und hielt den rohen Kadaver hoch. »Nun kannst du es zubereiten oder lagern. Wenn du es aufbewahren willst, kannst du es entweder einfrieren – aber soweit ich sehe, geht das hier nicht –, also kannst du es entweder einpökeln oder das Fleisch räuchern …«
Plötzlich sträubten sich ihm die Nackenhaare. Er spürte das Gewicht eines messerscharfen Blicks im Rücken.
William drehte sich langsam um.
Aus den Zweigen einer Kiefer funkelte ihn ein Augenpaar an.
»Was zur Hölle ist das?«, flüsterte er.
Larks Stimme bebte. »Das große Monster.«
Die Augen maßen ihn. William schaute tief hinein und bemerkte eine beinahe menschliche Aufmerksamkeit, eine grausame, böswillige Intelligenz, die ihm eisige, alarmierende Schauer über den Rücken jagte. Er straffte sich wie eine Sprungfeder.
Die diamantförmigen Pupillen verengten sich zu Schlitzen und blickten an William vorbei auf das Mädchen in den Zweigen hinter ihm.
William nahm die Armbrust vom Rücken und ließ die Bügel der Waffe einrasten.
Die Augen folgten Lark. Was immer da zwischen den Kiefern hockte, war sprungbereit.
»Lauf!«
»Was?«, hauchte Lark.
»Lauf. Jetzt!«
William hob die Armbrust. Hallo, Arschloch .
Die Augen fixierten ihn.
Gut so. Vergiss das Mädchen. Achte nur auf mich . William zog vorsichtig den Abzug. Ein vergifteter Bolzen sauste
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