Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
stand auf. Kaldar ebenfalls. William sprang so unvermittelt vom Geländer, dass sie fast aufgestöhnt hätte. »Ich hol mal eben mein Haarband. Ich hab’s draußen liegen lassen. Ich komme gleich runter.«
Wohl wissend, dass Kaldar sie beobachtete, trat sie auf den Balkon hinaus. William hing über der Kante und drückte die Füße gegen die Wand. Er sah nicht so aus, als würde ihm das allzu viel Mühe bereiten. Ja, sie steckte definitiv bis über beide Ohren im Schlamassel, aber wenn William sie in seinen Armen hielt, fühlte sie sich glücklich und geborgen. Alles fiel in sich zusammen, und sie wollte so sehr mit ihm zusammen sein, dass sie sich schon mit wenigen Glücksmomenten zufriedengegeben hätte.
»Heute Abend«, formulierte sie lautlos. »In meinem Schlafzimmer.«
Er grinste wie ein zufriedener Kater. Cerise drehte sich um und ging mit Kaldar die Treppe hinunter.
24
Cerise erwachte. Ihr Schlafzimmer lag im Dunkeln. Sie brauchte einen Moment, bis sie das gleichmäßige, wispernde Geräusch neben ihr richtig eingeordnet hatte, doch dann erkannte sie es: Larks Atemzüge.
Ihr Erklärungsversuch war nicht gut gelaufen. Zwar hatte sie ihr Bestes getan, aber Lark hatte nur gehört, dass ihre Mutter nicht zurückkommen würde. Nie mehr. Darauf war das arme Kind zusammengeklappt und hatte furchtbar geweint. Immerfort, in fiebriger Verzweiflung. Zuerst hatte Cerise sie zu beruhigen versucht, doch dann war etwas in ihr zerbrochen, und sie hatte ebenfalls zu weinen angefangen. Man hätte meinen können, ihre Tränen wären längst versiegt, aber nein, sie heulte genauso wie Lark. Dicht aneinandergedrängt lagen sie auf dem Bett, schluchzten vor Schmerz und wegen der Ungerechtigkeit. Endlich riss sich Cerise zusammen, nahm Lark in den Arm, flüsterte ihr Besänftigungen ins Ohr, bis ihre kleine Schwester sich zusammenrollte und wimmernd wie ein krankes Kätzchen einschlief.
Cerise blickte zur Decke. Kein Laut unterbrach die Stille. Sie hörte nichts, sah nichts, doch irgendetwas musste sie geweckt haben.
Sie setzte sich langsam auf und wandte sich dem hohen Fenster zu, das auf die Veranda hinausging. Ein glühendes Augenpaar starrte durch die Glasscheibe.
William.
Er trug kein Hemd. Das Mondlicht fiel auf Rücken und Schultern, ließ die Umrisse ausgeprägter Oberarmmuskeln sichtbar werden, glitt über den Muskelschild seiner Flanke bis zu seiner schmalen Taille. Sein Haar floss über seine Schulter wie eine dunkle Mähne. In seiner Raubtiergelassenheit stand er da, schön und furchterregend, und blickte sie mit demselben unmöglichen Verlangen an, das sie schon aus dem Haus am See kannte. Die Intensität raubte ihr den Atem. Sie war sich nicht sicher, ob sie in Ohnmacht fallen, schreien oder einfach aufwachen sollte.
Er bewegte sich und klopfte mit den Fingerknöcheln ans Fenster.
Das war kein Traum. Er war gekommen und wollte rein.
Cerise schüttelte den Kopf. Nein . Sie brauchte ihn so sehr, aber Lark brauchte sie dringender.
Er hob die Arme. Warum nicht ?
Sie lehnte sich hinüber, zog sehr vorsichtig die Decke herunter und legte Larks zerrauften Haarschopf bloß.
Er machte ein langes Gesicht. Dann beugte er sich vor und schlug resigniert den Kopf gegen die Fensterscheibe.
»Aaah!« Lark fuhr hoch. »Ceri! Ceri!«
Cerise drängte sich rasch zwischen ihre Schwester und das Fenster. »Was hast du?«
»Ein Monster, am Fenster ist ein Monster!«
Cerise nahm Lark in den Arm und drehte sich so, dass diese die Glasscheibe nicht mehr im Blick hatte. William riss sich die Hosen runter. Ein Starrkrampf erfasste seinen Körper, ließ ihn auffahren, bog seine Arme durch, verdrehte seine Schultern. Cerise schnappte nach Luft. »Da ist nichts.«
»Da ist ein Monster. Ich hab’s gesehen.«
Williams Muskeln verflüssigten sich wie geschmolzenes Wachs, dann brach er auf alle viere. Dichtes schwarzes Fell hüllte ihn ein. Er schüttelte sich, und hinter dem Fenster saß ein großer, schwarzer Wolf, dessen Augen wie zwei wilde Monde glühten.
Sie sah das jetzt nicht wirklich. Ganz bestimmt nicht.
Cerise sträubten sich sämtliche Nackenhaare. Sie schluckte. »Schau, Liebes, da ist kein Monster. Bloß ein Hund. Siehst du?«
Lark löste sich von ihr und schielte zum Fenster. »Wo ist er hergekommen?«
»Das ist Williams Hund.« Der verfluchte Wolf war so groß wie ein Pony.
William fuhr sanft mit den Pranken übers Glas und leckte es ab.
»Aber William hat gar keinen Hund.«
»Und ob er einen hat. Sein
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