Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
den Sümpfen hängen geblieben ist. Die Sheeriles würden Hilfe brauchen, um Gustave lebend in die Finger zu kriegen. Lagar Sheerile kann gut mit seiner Klinge umgehen, aber Gustave ist ein niederträchtiger Hundesohn. Und seine Tochter ist vom selben Schrot und Korn – rechnen Sie nicht auf Gnade, falls Sie sich mit ihr anlegen. Ein Typ auf der Lohnliste der Sheeriles behauptet, dass die Hand hinter der ganzen Sache steckt.« Zeke runzelte die Stirn. »Sie wird ungeduldig.«
Viel klarer sah er damit nicht. »Sonst noch was?«
»Mehr habe ich nicht. Wo finde ich Sie, wenn ich Sie kontaktieren muss?«
»In ihrem Haus.«
Zekes Augenbrauen krochen nach oben. »Sie haben eine Einladung ins Rattennest? Sie müssen Wunder wirken können.«
William verkniff sich ein Lächeln. Und ob er das konnte.
Zeke öffnete die Tür. »War mir ein Vergnügen, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.«
»Das Vergnügen ist rein auf Ihrer Seite«, knurrte William.
Cerise sah von der Ladentheke auf. »Fertig?«
»Ja.« William nickte.
»Können wir Ihre Hintertür benutzen, Zeke?«
»Klar doch«, antwortete der.
Einen Moment später waren sie draußen, und William atmete die Gerüche der Sumpfstadt ein, die ihn umschwirrten.
»Hat er Sie ordentlich ausgenommen?« Cerises Augen lachten ihn an.
»Ich habe mich wacker geschlagen.«
»Natürlich.« Der rückwärtige Teil des Geschäfts ging aufs Moor, und Cerise hielt geradewegs darauf zu. »Zu unserer Mitfahrgelegenheit geht’s da lang.«
»Wir haben eine Mitfahrgelegenheit?«
»Mein Vetter«, erklärte sie. »Kommen Sie, Lord Bill, wir haben ihn schon lange genug warten lassen.«
»Genevieve …«
Die leise, eindringliche Stimme klang durch den Nebel in ihrem Kopf, ließ sie nicht los und forderte ihre Aufmerksamkeit.
»Genevieve …«
Gen öffnete langsam die Augen in die verschwommene, von einem Lichtkranz umgebene Welt, der für ihre erweiterten Pupillen viel zu hell war. Der Schmerz kam langsam, aus einem dunklen Brunnen in ihrem Innern. Er nährte sich von sich selbst, wurde dicht und schwer. Heiße Klauen bohrten sich in ihr Innerstes, die Welt drehte und schüttelte sich. Ein Gesicht versperrte ihr den Blick. Es wirkte lächerlich groß, größer als sie, größer als der Raum, dunkler als das Licht.
»Kannst du mich hören, Gen?«
»Ja«, hauchte sie zwischen gequälten, gehetzten Atemzügen. Sie kannte diese Stimme. Sie kannte sie sogar sehr gut.
»Deine Tochter, Cerise, war im Broken und ist wieder zurück. Warum? Sag’s mir.« Eine Hand strich ihr übers Haar, dann ertönte wieder die Stimme: sanft, freundlich, besorgt. »Ich weiß, du bist müde. Sag mir, was Cerise im Broken gewollt hat, dann lasse ich dich ausruhen. Gib dir einen Ruck, meine Liebe!«
Ihre trockenen, gesprungenen Lippen rührten sich und formten die Worte: »Geh zum Teufel, Spider.«
Der Schmerz schwoll an, entzündete sich plötzlich in einer jähen Explosion. In ihren Ohren klangen zahllose Glocken. Das Feuer brannte sich in ihre Brust und verbrühte ihr die Beine. Es versengte ihre Haut, schmolz ihre Muskeln ein und grub seine Zähne in ihre Knochen. Instinktiv versuchte sie, sich wie ein Neugeborenes zusammenzurollen, aber es ging nicht. Ihre Welt versank im Chaos, mit jedem Heben ihrer Brust mehr, als würde ihr Atem den Vorgang beschleunigen. Gen Mar würgte und fiel in tiefe Besinnungslosigkeit.
Mit großen Schritten lief Cerise über den gewundenen Pfad und lauschte auf die Töne der Edge-Zikaden im Unterholz. Die Nacht hatte das Moor fest im Griff. Auf leisen Sohlen schlich sie heran, sanft und behutsam wie eine Sumpfkatze mit aufgestellten Ohren und weit offenen Augen. Das Rot und Gelb des Himmels brannte zu tiefem Indigo und Purpur herunter. Links erstreckte sich die träge Weite des Deadman River ins Düster. Während die kühler werdende Luft dem ruhigen Fluss Wärme entzog, flitzten die letzten Nachtweberlibellen zum Wasser, kratzten an der Oberfläche und schnappten sich mit ihren Chitinklauen Wasserflöhe.
Cerise liebte die Nacht. Die Welt wirkte größer, der Himmel riesig und endlos, die sanfte Dunkelheit schien voller Möglichkeiten und Aufregungen. Ja, klar. Aufregung war momentan so ziemlich das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Den Pfad entlangzulaufen und zu sehen, wie Lord Bill über eine verirrte Wurzel stolperte, war für sie das höchste der Gefühle, was Aufregung anbetraf. Bisher war er jedoch nicht einmal gestrauchelt. Als könnte der Mann im Dunkeln
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