Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
einer Seite länger waren als auf der anderen, wirkte sein Kopf schief.
Der Blaublütige hielt kurz inne, ließ die Schätze auf sich wirken, dann sah er Georgie an, der unter einem schmalen Dachfenster auf einem Sandsack saß. Georgie seufzte. Nun würde es wieder ein Gespräch darüber geben, dass er den Tod akzeptieren und der »Natur ihren Lauf lassen« musste. Er würde nicken und tun, was er immer tat. Zeitverschwendung.
Declan kam zu ihm, ging vor ihm in die Hocke und betrachtete den Metallrahmen in seiner Hand. Georgie hielt ihn Declan hin.
Auf dem Bild war Großvater Cletus zu sehen. Sehr groß, rothaarig, in weiten, dunklen Hosen und einem hellen Hemd, auf dem Kopf einen verwegen aufgesetzten Dreispitz. Über der Schulter hing ihm ein Karabiner, eine antike Muskete, deren Ladestock er in der Rechten hielt, während der Lauf hinter seinem Rücken hervorlugte. In der anderen Hand hatte er ein langes Rapier, auf das er sich leicht aufstützte wie auf einen Spazierstock. Aus seinen Augen leuchtete Heiterkeit. Großmama meinte, er sehe aus wie eine Erwachsenenversion von Jack im Seeräuberkostüm. Als Georgie das Bild zum ersten Mal nach unten trug und ihr zeigte, schnalzte sie nur mit der Zunge und sagte: »Treu wie Gold und absolut unzuverlässig.« Danach lächelte sie einen ganzen Tag nicht mehr, und er versteckte das Bild zusammen mit dem übrigen Zeug auf dem Dachboden.
»Großpapa«, sagte Georgie jetzt, für den Fall, dass Declan sich nicht denken konnte, wer das war.
»Verstehe.«
»Was ist mit Ihren Haaren passiert?«
»Ich hatte sie satt.«
George nickte und sah ihn in Erwartung eines Vortrags an.
»Ich habe etwas für dich gemacht«, sagte Declan. »Ich würde mich freuen, wenn du es dir mit mir anschauen würdest.«
George folgte ihm ins Freie. Mitten auf der Wiese sah er ein Kinderplanschbecken und darum herum ein großes, unübersichtliches Irgendetwas aus Seilen und Pflöcken. Sie überwanden die Seile, wobei Declan über die Wäscheleinen stieg, während George sich unter ihnen durchwand, dann standen sie nebeneinander am Beckenrand.
Im Zentrum des Beckens, wo die Magie das Wasser band, erhob sich eine durchsichtige Wasserkuppel. In deren Innerem saß eine kleine Ansiedlung windschiefer Hütten, umgeben von Feldern und Wald, die in eine grüne Ebene ausliefen. Am Scheitelpunkt glühte die Kuppel in weichem, silbrigem Licht, sodass Georgie jede Einzelheit des Dorfes genau erkennen konnte – von den Brunnensteinen bis zu den winzigen hin und her huschenden Wesen. Diese Wesen, die kleinen, menschenähnlichen Füchse mit rotem, braunem und schwarzem Fell ähnelten, gingen herum, unterhielten sich miteinander, trugen Wasser, bestellten die Felder oder reparierten die mit Stroh gedeckten Dächer. Georgie sah wie gebannt zu.
»Was ist das?«, fragte er schließlich.
»Eine Wunschwelt. Weißt du, was ein Computer ist?«, erkundigte sich Declan.
»Ja.«
»Das hier ist so ähnlich. Sozusagen die Weird-Version, allerdings hat die Wunschwelt, anders als bei einem Computer, einen ganz bestimmten Zweck. Sie kann nur eine Sache, die aber ausgesprochen gut. Diese hier war meine Abschlussarbeit auf dem Gymnasium.«
»Haben Sie lange dafür gebraucht?«
»Ein paar Jahre. Die Wunschwelt steht eigentlich in meinem Haus. Das hier ist nur eine Kopie. Ein genaues Abbild aus Wasser und Magie, das durch einen Zauber mit dem Original verbunden ist. Du könntest es auch als dreidimensionales Spiegelbild bezeichnen. Aber was den Verwendungszweck angeht, ist es fast so, als würde dir das Original zur Verfügung stehen.«
George sah zu, wie die Füchse lange Stangen zu ihren Hütten trugen. »Sind sie lebendig?«
»Nein. Sie sind magische Konstrukte. Genau genommen existieren sie gar nicht. Man kann keinen herausnehmen, wenn man die Kuppel aufbricht. Es würde sich alles verdunkeln. Schau.«
Declan ging an die Seite, wo eine wässrige Kontrolltafel aus der Kuppel ragte. »Die Wunschwelt ist ein Simulator, an dem man den Prozess der Zivilisation studieren und ihre Entwicklungsmöglickeiten beobachten kann. Du kontrollierst diese Welt, du kannst es regnen lassen oder eine Dürre verursachen. So.« Er drehte einen Regler.
Unter der Kuppel stieg das Wasser und strömte über die Felder, worauf die Füchse auf ihre Hütten kletterten. Declan drehte den Regler in die andere Richtung, und das Wasser versiegte.
Nun bediente er die Tastatur, das Kuppelinnere geriet in Bewegung und bildete eine kleine, von
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