Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
kochte in einem kleinen Wasserkrug, den ihr Vater als ibrik bezeichnet hatte, Kaffee. Zweimal ließ sie ihn aufkochen, bevor sie ihn endgültig vom Feuer nahm, goss sich dann eine Tasse davon mit ein wenig Milch ein und setzte sich an den Tisch, um das Getränk in vollen Zügen zu genießen. Durch die großen Fenster blickte sie auf die in von Gebüsch gesäumte Wiese. Dahinter sah sie den Fußweg, der sich im Frühnebel zwischen den Bäumen verlor. Gras und Bäume lagen dunkel und feucht von Tau im Dämmerlicht. Eine kühle Brise wehte durch die Fliegengitter vor den Fenstern. An einem solchen Morgen war sie froh, ein Dach über dem Kopf und Kaffee im Haus zu haben. Rose hob die Tasse an die Lippen, pustete vorsichtig und berührte den Tassenrand. Immer noch zu heiß.
Die Bestien beunruhigten sie. Sie hatte noch nie etwas so … so Fremdartiges gespürt. Magie stand immer in Verbindung mit der Natur, selbst die niederträchtigste, aber diese Bestien standen mit nichts in Verbindung. Sie waren nicht untot, nicht verzaubert, beseelt oder verwandelt. Um einen dieser Zustände hinzubekommen, musste man von einem natürlichen Element ausgehen: Stein, Metall, lebendem Gewebe. Diese Grundlage prägte das entstehende Geschöpf. Aber die Magie der Bestien war an gar nichts geknüpft.
Auch wenn sie es nur äußerst ungern zugab, erfüllte sie eine tiefe Dankbarkeit, dass Declan zufällig des Weges gekommen war und Jack das Leben gerettet hatte. Damit hatte er sich, viel mehr als durch seine Dublone, die Nacht unter ihrem Dach verdient. Ihre Erinnerung präsentierte ihr Declan als vor Kraft strotzend, seine Augen von einem strahlenden Weiß überzogen wie von einer Eisschicht … Er war durchaus etwas Besonderes. Letzte Nacht, während sie abwechselnd einnickte und vor Paranoia wach lag, hatte sie ein paarmal an ihn gedacht. Am liebsten hätte sie sein Gesicht berührt, um sich davon zu überzeugen, dass er wahrhaftig aus Fleisch und Blut bestand.
Rose riss sich zusammen und wandte sich wieder der Frage zu, was sie mit den Jungen anstellen sollte. Ohne den Truck bestand für sie keine Möglichkeit, die Kinder zur Bushaltestelle zu bringen und wieder von dort abzuholen. Sie alleine gehen zu lassen kam nicht infrage, nicht solange sich diese Biester hier herumtrieben. Ihre Arbeit begann um halb acht und würde, wenn sie Glück hatte, bis fünf oder sogar bis sechs dauern. Die Kinder hatten um halb vier nachmittags schulfrei, und der Schulbus setzte sie gegen Viertel vor vier ab. Sie konnten unmöglich allein bis zum Haus gehen, nicht solange diese Biester hier ihr Unwesen trieben, und der Gedanke, sie solange an der Hauptstraße warten zu lassen, gefiel ihr ebenso wenig. Großmama war vermutlich immer noch bei Adele. Die alte Frau wohnte tief im Wald, und wenn Großmama sie besuchte, blieb sie für gewöhnlich über Nacht.
Die Jungen konnten nicht zwei Stunden an der Bushaltestelle warten. Schließlich gab es auch im Broken Raubtiere. Dann mussten sie eben mal einen Tag schwänzen.
Eine Bewegung auf dem Fußweg ließ sie den Hals recken, damit sie besser sah. Declan kam den beschatteten Pfad hinaufgelaufen. Mit Verfolgern rechnend, fuhr sie in die Höhe. Er lief bis zur Wiese, beugte sich einen Moment vor, schüttelte den Kopf, und machte sich dann daran, nach Joggerart das Haus zu umkreisen, um gehend das Brennen in den Lungen loszuwerden. Rose fiel auf ihren Stuhl zurück. Ihr Puls raste. Adrenalin jagte nadelfeine Stiche über ihre Arme. Gottverdammt.
Wahrscheinlich wusste der arrogante Kerl nicht mal, was es hieß, vor einem Angreifer davonzulaufen. Immer schön langsam kauen. Alles klar!
Ihr war durchaus bewusst, warum er so war, wie er war. Sie hatte die Enzyklopädie des Weird und andere Bücher gelesen, die sie von den Karawanen eingetauscht hatte. Die Edelleute im Weird verfügten über unübertroffene Macht. Unter dem wachsamen Auge einer konstitutionellen Monarchie herrschten sie als Einzelne über ihre Ländereien und als Verbände über ihr Vaterland. Sie wurden sorgfältig herangezüchtet, von Geburt an unterwiesen, und wuchsen in dem Bewusstsein auf, der Elite anzugehören. Als würde man Rassehunde auf Wettkämpfe verschiedener Hundeschulen vorbereiten. Da sein Leben von strengen Regeln bestimmt war, konnte er genau genommen nichts dafür, dass er diese Regeln auch allen anderen aufnötigen wollte – er wusste es einfach nicht besser. Aber nur weil sie wusste, wo er herkam, musste sie damit noch lange
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