Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
wollte.
Großmama Éléonore riss einen kleinen, verschließbaren Plastikbeutel auf und ließ ein Stückchen Fleisch von der Bestie draußen ins Zentrum der Windrose fallen. Der Gestank zwickte Rose in der Nase. Sie verzog das Gesicht und wandte sich ab, um ein wenig unverbrauchte Luft zu schnappen.
»Warum stinkt das so?« Jack hielt sich die Nase zu.
»Wissen wir nicht.« Großmama Éléonore winkte alle an den Tisch. »Fasst euch bei den Händen.«
Dann standen sie Hand in Hand um den Tisch herum.
»Konzentriert euch auf das Fleisch.« Großmama Éléonore holte tief Luft und begann zu deklamieren: »Alles, was ist, und alles, was war, kehrt zu seinem Ursprung zurück, höre meine Worte. Alles, was ist, und alles, was war, kehrt zu seinem Ursprung zurück, höre meine Worte …«
Magie ging von ihnen aus und griff nach dem stinkenden Stück Fleisch. Unter dem Eiswürfel breitete sich eine kleine Wasserpfütze aus und bildete einen perfekten Kreis; der Granitbrocken erbebte, kleine Quarzeinschüsse glitzerten; die Kerzenflamme wuchs auf fünf Zentimeter; die Raupe kringelte sich …
… nur das Fleischstück in der Mitte wollte sich nicht rühren.
Zehn Minuten später versuchten sie es noch einmal.
Nichts.
»Als wäre es nicht von dieser Welt«, murmelte Rose.
»Wir können noch etwas anderes versuchen.« Großmama Éléonore schürzte die Lippen.
Gesagt, getan. Vier Stunden später konnte Rose kaum noch den Kopf gerade halten. Großmama Éléonore griff nach einem Nudelholz, betrachtete das Stück Fleisch – das dritte, die ersten beiden waren für diverse Zaubersprüche draufgegangen – und schlug mit dem Nudelholz darauf ein.
Rose runzelte die Stirn. »Was soll das jetzt?«
»Damit ich mich besser fühle.«
Als ihr Handy klingelte, zuckte Rose vor Schreck zusammen.
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung!« Sie klappte das Handy auf. Vielleicht ein Stellenangebot. »Hallo?«
»Hi, Rose«, sagte eine Männerstimme.
»Hi. Bleiben Sie mal einen Moment dran.« Sie verdeckte das Telefon mit der Hand und signalisierte Großmama stumm »William«.
»Geh.« Großmama Éléonore deutete nickend auf die rückwärtige Veranda.
»Ich brauche nur eine Minute«, versprach Rose.
Sie trat auf die Veranda und ging über den Rasen zu der alten Holzschaukel, die am mächtigen Ast einer knorrigen Eiche baumelte. Es war inzwischen Nacht geworden. Das Dunkel empfing sie kühl und gewürzt mit dem zarten, leicht bitteren Aroma der von den Ranken am Baum fallenden Bauernorchideen sowie dem schwachen Mimosenduft der Nachtnadeln. Die Fenster des Hauses warfen einen matten Lichtschimmer auf den in Finsternis getauchten Rasen.
»Woher haben Sie meine Nummer?« Sie rutschte auf der Schaukel herum.
»Von einer Freundin von Ihnen. Die mit den grünen Haaren.«
Latoya. »Die Sie woher kennen?«
»Ich war bei Ihrer Arbeitsstelle. Dachte, Sie würden vielleicht mit mir essen gehen. Aber man sagte mir, Sie seien gefeuert.«
Sie hörte echte Anteilnahme in seiner Stimme. »Ja, bin ich.«
»Tut mir leid, das zu hören. Was haben die Jungs dazu gesagt?«
»Die wissen’s noch gar nicht.«
»Dann brauchen Sie einen Job. Ich könnt mich mal umhören …«
Aber natürlich würde sie niemand einstellen. Nicht mit ihren phänomenalen Papieren aus dem Edge. Trotzdem war das ein sehr aufmerksames Angebot. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber fürs Erste komme ich zurecht.«
Plötzlich lag eine vage Schärfe in Williams Stimme. »Ich hab gehört, es gab da auch einen Mann.«
Latoya und ihre große Klappe. Mittlerweile wusste bestimmt schon das ganze Edge, dass ein Mann der Grund für ihren Rausschmiss war. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte, was irgendwer über sie dachte oder sagte. »Ich bin nicht wegen ihm geflogen. Wissen Sie, Emerson, mein Chef, und mein Vater waren früher mal Freunde. Aber ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle …«
»Wahrscheinlich, weil Sie jemanden zum Reden brauchen. Nun, da bin ich, und Zeit habe ich auch.«
Sie seufzte, stieß sich gewohnheitsmäßig vom Boden ab und begann langsam vor- und zurückzuschaukeln. Die Kette protestierte leise.
»Was quietscht da so?«
Wie, um alles in der Welt, konnte er das durchs Telefon hören? »Ich sitze auf einer alten Schaukel.«
»Ah. Und was ist jetzt mit diesem Emerson?«
»Wie ich schon sagte, er und mein Vater waren mal Freunde. Dann ist mein Vater gegangen. Er wollte weg und … Abenteuer erleben. Emerson ist geblieben, hat
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