Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
die Gnadenlose! Wo steckst du?«
Keine Antwort. Wohin hatte dieser Waschbär sich bloß wieder verdrückt? Sie durften keine Zeit vergeuden.
Audrey warf die Tasche auf die Veranda, holte Lings tragbaren Käfig aus dem Schlafzimmer, platzierte ihn ebenfalls auf der Veranda, stellte zwei volle Fünf-Gallonen-Benzinkanister daneben – je seltener sie irgendwo anhielt, wo es Menschen und Kameras gab, umso besser – und wollte den Bogen aus dem Schlafzimmer holen. Die Armbrust lag bereits sicher unter der Plane verborgen im Auto. Sie hatte morgens kurz überlegt, sie herauszunehmen, da sie nicht wusste, ob sie Johanna würde herumkutschieren müssen. Sie wollte keine unangenehmen Fragen beantworten, falls die Frau einen Blick auf den Rücksitz warf. Doch ihr Verfolgungswahn hatte die Oberhand gewonnen, und sie hatte die Armbrust da gelassen, wo sie immer lag.
Unangenehme Fragen ! Pah !
Audrey klaubte Bogen und Köcher vom Regal und marschierte auf die Veranda.
»Ling, ich schwöre, wenn du nicht augenblicklich auftauchst …«
Neben ihrem Wagen stand ein alter Bekannter. Denis.
Audrey bohrte den Bogen zwischen die Verandabohlen und spannte ihn mit einer geschmeidigen Bewegung. Wie zum Teufel …?
»Hauen Sie ab, oder ich mache sie kalt.«
Er schenkte ihr ein breites Raubtiergrinsen. »Tja, wissen Sie, das geht leider nicht.«
Sie legte einen Pfeil ein und ließ ihn von der Sehne schwirren. Mit einem Pfeifen durchschnitt der Pfeil die Luft und bohrte sich vor den Füßen des Mannes in die Erde.
»Das war ein Warnschuss. Der einzige. Mehr gibt’s für Sie nicht.«
Er breitete die Arme aus. »Wir müssen reden, Audrey.«
»Müssen wir nicht.«
Sie legte einen neuen Pfeil ein, zielte und schoss. Ein satter Fehlschuss. Der Pfeil prallte kreischend von der Wagentür ab. Verdammt, jetzt habe ich die Honda-Tür verbeult .
»Allmählich kommt es mir so vor, als könnten Sie mich nicht leiden.«
»Ach, wirklich? Wie kommen Sie denn da drauf?«
»Sie wollen mich gar nicht umbringen. Schließlich bin ich Ihre Fahrkarte aus diesem …«
Sie schoss noch einmal.
»… Elend. Könnten Sie mal einen Augenblick aufhören, auf mich zu schießen?«
»Nein.« Der gerade abgefeuerte Pfeil hätte sein Bein treffen müssen. Sie zog den nächsten Pfeil aus dem Köcher.
Er rupfte derweil den ersten Pfeil aus der Erde. »Ich setze diesen Pfeil gegen das Messer, das sie mir abgenommen haben, dass ich es unverletzt bis auf Ihre Veranda schaffe.«
Fast zwanzig Meter Distanz zwischen ihm und der Veranda, und ihr Köcher war noch fast voll. »Die Wette gilt.«
Er grinste. Der Bursche war ohne Zweifel ein selbstmörderischer Geistesgestörter. Audrey schoss abermals. Der Pfeil sauste durch die Luft und zielte genau auf die Brust des Mannes. Im letzten Moment sprang er mit einer unnatürlichen Bewegung aus der Flugbahn des Pfeils, fast so, als hätte der Mann sich ein Seil um die Taille gebunden, an dem ihn etwas aus der Schusslinie riss.
Dann trat er zwei Schritte vor.
»Oh nein, das lassen Sie schön bleiben.«
Ein Schuss. Kein Treffer.
Daneben.
Daneben.
Daneben. Himmelherrgott noch mal .
Wieder kein Treffer.
Nun stellte er seinen linken Fuß auf die unterste Verandastufe. In Audrey wuchs die Panik, ein fieberhaftes, betäubendes Nervenflattern, das ihr den Verstand zu rauben drohte. Sie blickte an ihm vorbei auf die Pfeile, die Punkt für Punkt seinen Weg markierten.
»Mein Messer«, sagte er.
»Sie haben geschummelt.« Es konnte sich nur um Zauberei handeln.
»Keineswegs.«
Sie deutete mit dem Pfeil in ihrer Hand auf die Wegmarken. Der Pfeil zitterte. »Na, und ob.«
»Sie schießen lausig.«
Audrey riss den Bogen hoch und schoss einen Pfeil direkt auf seine Brust ab. Die Sehne schnalzte. Der Pfeil verfehlte ihn. Zauberei!
Sie wies mit dem Bogen auf ihn. »Geschummelt.«
Eine leise Stimme in ihrem Kopf schrie: Lauf, lauf weg ! Er könnte sonst wer sein. Er könnte von der Hand kommen, ein kalifornischer Räuberbaron sein. Ein Sklavenhändler . Lauf !
Soweit sie wusste, hatte Alex ihm erzählt, dass sie die westägyptische Box noch hatte. Oder, schlimmer noch, ihr Bruder hatte die Ware an ihn verkauft wie schon früher. Audrey fühlte sich wie von Geisterhand gewürgt. Sie würde nie wieder für irgendjemanden beide Wangen hinhalten. Nie wieder!
Er betrat die Veranda. »Ich warte immer noch auf mein Messer.«
Sie zückte das Messer. Die schöne, schwarze Klinge bog sich aus ihrer Hand. »Kommen Sie es holen,
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