Land der Sehnsucht (German Edition)
sie in ihrer Größe, Form und Farbe verschieden waren. Beziehungsweise sie alle zeigten relativ wenig Gefühl. Véroniques Meinung nach war der Maler so sehr damit beschäftigt gewesen, das Aussehen jeder Person exakt wiederzugeben, dass es ihm entgangen war, wer diese Person im Innersten war.
„Donlyn …“ Ein leises Weinen war zu hören. „Donlyn …“
Véronique drehte sich um und bemerkte, dass das traurige Flüstern aus Miss Maudies Zimmer kam. Sie trat ein und sah, dass Miss Maudie immer noch schlief, aber ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
Véronique legte ihr Handtäschchen und ihre Tasche ab und beugte sich über das Bett. „Pscht …“ Sie streichelte Miss Maudies Stirn, wie eine Mutter es bei einem Kind tut, bis sich die Sorgenfalten im Gesicht der alten Frau allmählich legten und sie wieder in einen ruhigen Schlaf fiel.
Véronique setzte sich in den Sessel in einer Ecke des geräumigen Zimmers und sank auf die weichen Kissen. Ein warmer Juniwind wehte durch das offene Fenster und bewegte die Spitzenvorhänge. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Tasche und dem Familienporträt, das sie von Larson und Kathryn Jennings und ihren Kindern angefertigt hatte. Sie war gespannt auf die Reaktion von Miss Maudie, wenn sie das Bild sah, aber gleichzeitig war sie deshalb ein wenig nervös.
Als sie ihr Handtäschchen holte, fiel Véroniques Blick auf einen Rollstuhl in der Ecke. Vielleicht fühlte sich Miss Maudie später so gut, dass sie draußen ein wenig spazieren gehen könnten.
Véronique öffnete ihr Täschchen und holte einen dünnen Stapel Briefe heraus. Sie war schon fast damit fertig, die Briefe ihres Vaters alle noch einmal zu lesen, und hatte ein gewisses Schema darin erkannt, das ihr vorher nicht aufgefallen war.
Weniger in Bezug auf den Inhalt, den er schrieb, sondern in Bezug darauf, wie er schrieb: wie er die Feder über die Seite bewegte, wie er jeden einzelnen Buchstaben formte, wie seine Feder eine Pause einlegte, bis ein kleiner Tintenfleck auf der Seite erschien, als hätte ihr Vater im Geiste angestrengt seinen nächsten Gedanken formuliert.
„Miss Girard …“
Véronique blickte von dem offenen Brief in ihrer Hand auf und sah, dass Miss Maudies Augenlider zuckten.
„Was für eine schöne Überraschung, Sie beim Aufwachen hier zu sehen, meine Liebe.“
Véronique stand auf und trat ans Bett. „Bonjour, Miss Maudie.“ Sie lächelte zu ihr hinab. „Ich möchte mich als Erstes vielmals bei Ihnen entschuldigen. Denn ich habe die erste Regel der Etikette missachtet und bin einfach unangemeldet gekommen, aber Claire lud mich ein zu warten.“ Sie berührte leicht die Stirn der Frau. „Wie fühlen Sie sich heute?“
„Diese Claire ist eine weise Frau“, seufzte Miss Maudie. Sie schloss kurz die Augen. „Ihre Hände fühlen sich so gut an, meine Liebe.“
„Ist Ihnen zu warm?“ Véronique berührte die Wangen der Frau. Sie hatte kein Fieber.
„Nein, mir geht es gut, Mädchen. Aber nichts kann die Einsamkeit, die wir alle von Zeit zu Zeit spüren, so gut vertreiben wie eine sanfte Berührung.“
„Hmm ...“ Véronique erinnerte sich an das Gespräch mit Jack, das sie zu ihrem heutigen Besuch veranlasst hatte. „Oui, ich denke, das kennen wir alle. Einige mehr, andere weniger.“ Ihr war eine Einsamkeit im Tonfall der Briefe ihres Vaters aufgefallen, die sie früher nicht bemerkt hatte. Und sie stellte fest, dass ihre Enttäuschung und ihr Schmerz wegen seines nicht eingehaltenen Versprechens dadurch gemildert wurden.
Miss Maudie schob sich in die Höhe, und Véronique rückte die Kissen hinter ihrem Rücken zurecht. „Was haben Sie da gelesen, Miss Girard?“ Miss Maudie strich über ihre silberweißen Haare und bedeutete Véronique dann, sich auf die Bettkante zu setzen. „Lassen Sie sich von mir nicht stören, Kind.“
Véronique nahm die Briefe. „Das sind Briefe, die mein Vater vor vielen Jahren an meine Mutter schrieb. Sie sind an sie adressiert, aber gelegentlich hat er auch mir einige persönliche Sätze geschrieben.“ Sie berührte die letzten drei Umschläge. „Bevor sie starb, bat mich meine Mutter, sie noch einmal zu lesen.“
„Noch einmal?“ Miss Maudie schaute sie fragend an.
„Oui, meine Mutter las sie mir vor, als ich ein kleines Mädchen war, und ich habe sie im Laufe der Jahre oft gelesen.“ Sie drehte den offenen Brief in ihrer Hand. „Aber ich kann sie anscheinend noch so oft lesen, sie sagen immer das Gleiche.“
„Und Sie hatten
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