Land der Sehnsucht (German Edition)
Mutter ein Leben ermöglicht, das sie als selbstverständlich hingenommen hatte, da sie nie etwas anderes kennengelernt hatte. Die Dienstboten hatten sich immer um alles gekümmert, was sie gebraucht hatte. Ihre Kleidung, die fast genauso elegant gewesen war wie Francettes, war von der persönlichen Familienschneiderin der Marchands genäht worden; wenn etwas schmutzig gewesen war, war es verschwunden und hatte am nächsten Tag frisch gewaschen wieder in ihrem Schrank gehangen. Bis sie im letzten Sommer gezwungen gewesen war, Paris zu verlassen, war ihr nie bewusst geworden, was für ein verwöhntes Leben sie geführt hatte. Es war ihr auch nie in den Sinn gekommen, wie sehr sie auf den Schutz und die Vertrautheit dieses Lebens angewiesen gewesen war, um sich sicher zu fühlen. Um zu wissen, wer sie war.
Sie trat näher ans Fenster, achtete aber darauf, nicht zu nahe heranzutreten, und versetzte den Läden einen Stoß, damit die kühle Luft besser einziehen konnte. Das war etwas, das sie in diesem Colorado-Territorium schnell zu schätzen gelernt hatte: Auch wenn es mittags ziemlich warm werden konnte, da allmählich der Frühling einzog, verbreiteten die Abende eine angenehme Kühle. Sie atmete tief ein und entdeckte einen süßen Geruch in der Luft, einen angenehmen Duft, den sie jedoch nicht kannte.
Dann hörte sie es wieder … Ein so herzhaftes und tiefes Lachen, dass ihr allein schon beim Zuhören ein Lächeln entlockt wurde.
Als sie feststellte, aus welcher Richtung es kam, vermutete sie, dass Monsieur Colby und sein Freund immer noch auf dem Gehweg, zwei Stockwerke unter ihr, standen. Sie betrachtete die Entfernung zum Fenster.
Die weißen Spitzenvorhänge flatterten im Wind und luden sie stumm ein. Oder sie forderten ihren Mut heraus. Sie zögerte und versuchte, nicht daran zu denken, wie der Boden unter ihren Füßen aus der Wand des Gebäudes ragte. Aber das Bedürfnis, sich zu beweisen, dass sie etwas aus eigener Kraft tun konnte, war für einen Moment stärker als ihre Ängste.
Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Seit Jahrhunderten wurden Gebäude in Paris mit Erkerfenstern gebaut. Die Architektur war ihr also nicht neu. Sie versuchte einfach, solche Fenster zu meiden, besonders, wenn sie offen waren wie jetzt.
Sie stützte die Hände auf beide Seiten des Fensters. Es sind nur drei Stockwerke. Es sind nur drei Stockwerke. Dieser Satz wiederholte sich wie ein schweigendes Mantra in ihrem Kopf.
Ihr schneller, abgehackter Atem begleitete das Klopfen in ihrer Brust, während die Seiten des Fensters Zentimeter für Zentimeter näherkamen. Schließlich berührte ihr Bauch das Fensterbrett. Sie biss die Zähne zusammen und ignorierte das Schaudern, als die Straße unter ihr in ihrem Blickfeld auftauchte.
Sie schloss die Augen, nahm ihren ganzen Mut zusammen und beugte sich vor. Ein Schwindelgefühl veranlasste sie, ihren Griff um den Holzrahmen zu verstärken. Sie wartete, dass es vorüberginge, und schlug langsam die Augen auf.
Monsieur Colby und sein Freund standen tatsächlich noch dort, wo sie vorher schon gestanden hatten, unter ihrem Fenster. Der Straßenverkehr war weniger geworden, da der Nachmittag dem Abend wich.
Ihr Körper wurde ganz heiß und dann kalt. Ich kann das …
Eine Straße weiter fegte eine Frau vor einem Geschäft den Gehweg, während ein Junge die Schaufenster putzte. Ein plätschernder Bach bahnte sich seinen Weg von den Bergen herab und lief am Rand der Stadt vorbei, und in der Ferne erhob sich ein weißer Kirchturm. Sie war sich aus dieser Entfernung nicht sicher, aber neben dem Kirchhof befand sich, wie es aussah, ein Friedhof. Lilly hatte recht. Dieses Fenster bot einen herrlichen Blick über Willow Springs.
Ein immer stärkeres Schwindelgefühl setzte in ihrem Kopf ein und in ihrem Hinterkopf begann etwas zu pochen.
Der westliche Horizont färbte sich rot und der blaue Himmel unterstrich den roten Glanz. Die Berge glühten in der Spätnachmittagssonne und erweckten den Eindruck, als hätte jemand tief in ihnen eine Kerze angezündet.
Bei jedem Pulsschlag wurde das Pochen in ihrem Kopf lauter. „Atme, Véronique, atme …“ Die Stimme ihrer Mutter drang aus längst vergangenen Jahren zu ihr durch.
Véronique atmete keuchend ein und versuchte, sich wieder ins Zimmer zu schieben. Aber ihre Arme verweigerten ihr den Gehorsam. Sie schwankte. Die Stadt Willow Springs begann sich zu drehen, und alles verschwamm vor ihren Augen.
Kapitel 3
Véronique
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