Land der Sehnsucht (German Edition)
mit dem Abreisedatum absichtlich frei. Die Preise für die Übernachtung waren angemessen, und sie hatte immer noch genügend Geld. Monsieur Marchand und Monsieur Descantes waren beide sehr großzügig gewesen; die Summe, die sie von beiden bekommen hatte, hatte ihre Unkosten mehr als gedeckt, seit sie sich in New York City von der Familie Descantes verabschiedet hatte.
Bevor sie Paris verließ, hatte Monsieur Marchand ihr erklärt, dass auf einem Konto bei der Bank in Willow Springs eine weitere finanzielle Unterstützung auf sie warten würde. Außerdem hatte er ihr zugesichert, dass er weiterhin regelmäßig für ihren Lebensunterhalt aufkommen wolle. Was er mit „regelmäßig“ meinte, wusste sie nicht genau, nahm sich aber vor, der Bank bald einen Besuch abzustatten. Im Moment hatte sie mehr als genug Geld.
Das Wissen um ihre beruhigende finanzielle Situation weckte in ihr eine seltsame Frage. Eine Frage, die sie nicht allzu gern beantwortete: Falls es nötig werden sollte, sich in Willow Springs eine Arbeit zu suchen, für welche Art von Arbeit brachte sie die nötige Qualifikation mit?
Obwohl sie keine ausgebildete Musikerin war, hatte sie zusammen mit Francette Klavierspielen gelernt, da sie die Gesellschafterin des Mädchens gewesen war. Aber Véronique rechnete nicht damit, dass in Willow Springs eine große Nachfrage für dieses Können bestand. Das Gleiche galt für ihr Können, der Gastgeberin eines formellen Abendessens mit hundert oder mehr Gästen zur Hand zu gehen, oder sich bei politischen Bällen unter die gesellschaftliche Elite zu mischen und mit anderen Gesellschafterinnen von Ehefrauen und Töchtern ausländischer Würdenträger intelligente Konversation zu betreiben. Das alles war für die Gesellschafterin der Tochter eines Parlamentsabgeordneten wichtig, aber in diesem fremden Land anscheinend kaum zu gebrauchen. Und in dieser abgelegenen Gegend schon gleich gar nicht.
Véronique steckte die Feder wieder in die Halterung neben dem Tintenfass und beschloss, sich nicht den Kopf über etwas zu zerbrechen, das sie nicht ändern konnte. Vielmehr ließ sie sich von der herzlichen Begrüßung der Hotelangestellten inspirieren. „Mein Name ist Mademoiselle Véronique Girard. Wem verdanke ich die Freude einer so herzlichen Begrüßung an diesem Nachmittag?“
Das Mädchen senkte den Kopf. „Ich heiße Lilly. Lilly Carlson, Madam.“ Ihre veilchenblauen Augen tanzten.
„Sind Sie die Besitzerin dieses schönen Hotels?“
Lilly kicherte. „Nein, Madam …“ Sie zögerte und fügte dann leiser hinzu: „Ich meine natürlich, Mademoiselle Girard.“ Sie sprach ihren Namen gleich beim ersten Mal richtig aus. Das Mädchen besaß eine schnelle Auffassungsgabe. „Ich helfe Mr und Mrs Baird nachmittags und manchmal auch vormittags. Ich arbeite hier, um Geld zu verdienen für …“ Sie unterbrach sich und wandte den Blick ab. Als sie Véronique wieder ansah, hatte eine gewisse Scheu ihre Ausgelassenheit verdrängt. „Ich helfe bei der Wäsche und beim Geschirr und begrüße gelegentlich die Gäste.“
Véronique nickte. „Ich hoffe nur, dass Monsieur und Madame Baird Sie gut bezahlen, Mademoiselle. Eine verantwortungsvolle Angestellte ist eine anständige Bezahlung wert.“
Was auch der Grund für die Wolke gewesen war, die sich für einen Moment über die Züge des Mädchens gelegt hatte, nun war sie wie weggeblasen. Ihr Gesicht strahlte wieder auf. „Ich hole den Schlüssel für Ihr Zimmer und führe Sie nach oben.“ Lilly verzog ihren hübschen Mund zu einem freundlichen Lächeln. „Soll ich Ihnen ein heißes Bad einlassen?“
Véronique hätte das Kind am liebsten umarmt. „Das wäre himmlisch. Merci. Mein Gepäck müsste bald hier eintreffen.“
Sie nickte. „Sobald es kommt, lasse ich es in Ihr Zimmer hochbringen.“
Als Lilly durch die Seitentür verschwand, erregte ein lautes Lachen, das von draußen kam, Véroniques Aufmerksamkeit. Sie trat näher zum Fenster, um besser sehen zu können.
Bertram Colby stand unweit der Tür auf dem Gehweg und unterhielt sich mit einem anderen Mann. Der Fremde stand mit dem Rücken zu ihr, aber der Klang seines tiefen Lachens drang durch das offene Fenster herein. Sie konnte ihre Stimmen hören, aber ihr Gespräch nicht verstehen.
Der Mann war mindestens einen Kopf größer als Monsieur Colby, hatte breite Schultern und eine Haltung, die Vertrauen weckte und Freundlichkeit ausstrahlte. In diesem Moment drehte er sich in ihre Richtung herum,
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