Land der Sehnsucht (German Edition)
würden ihr jeden Augenblick ausfallen.
Véronique hörte ihren Namen und stieg auf den Gehweg hinauf, um besser sehen zu können. Sie ließ ihren Blick über die Menschen schweifen und entdeckte schließlich Lilly, die ihr von der anderen Seite der Straße her zuwinkte.
Lilly bedeutete ihr zu warten. Dann hob sie ihre Röcke und wich den Schlaglöchern und den Pferdeäpfeln aus, während sie die Straße überquerte.
Véronique entdeckte hinter Lilly eine Gruppe von Jungen und Mädchen, ungefähr in Lillys Alter, auf dem Gehweg. Sie sahen hinter Lilly her. Einer der Jungen, blond, groß und schlank, begann übertrieben zu humpeln und sein rechtes Hosenbein hochzuziehen. Als die anderen verstohlen kicherten, spornte ihn das an, erst recht weiterzumachen.
Plötzlich begriff Véronique, was er da tat, und eine starke Entrüstung regte sich in ihr. Sie bedachte den unverschämten Jungen mit einem vernichtenden Blick, den er aber anscheinend nicht bemerkte.
„Bonjour, Mademoiselle Girard.“ Lilly stieg die Stufen zum Gehweg langsam und schleppend hinauf und ihr Gesicht strahlte vor Freude. „Comment allez-vous?“
Véronique lächelte und bemühte sich, ihren Ärger zu verbergen. Sie war beeindruckt von Lillys schneller Auffassungsgabe und ihrer fast perfekten Aussprache. „Guten Tag, Miss Carlson. Mir geht es gut, danke. Du hast die Sätze, die ich dir aufgeschrieben habe, gelernt, ja?“ Sie deutete auf den Gehweg. „Ich habe einiges zu erledigen. Hättest du Lust, mich zu begleiten?“
Zweifellos hatte Lilly in ihrem Leben schon viel Spott ertragen müssen, aber Véronique wollte es ihr ersparen, heute noch mehr über sich ergehen zu lassen. Manche Kinder konnten sehr grausam sein – sei es wegen einer Behinderung oder weil ein kleines Mädchen keinen Vater mehr hatte.
Lillys lange, dunkle Locken hüpften, als sie nickte. Sie gingen den Gehweg entlang. „Ich habe alle Sätze auswendig gelernt, Mademoiselle Girard. Würden Sie mir bitte ein paar neue aufschreiben? Wenn Sie Zeit haben?“
„Du hast die ganze Liste auswendig gelernt?“
„Oui, Mademoiselle.“ Lillys Augen funkelten.
Véronique fand, dass ein kleiner Test angebracht war. Sie räusperte sich übertrieben. „Guten Abend, Mrs Carlson.“
„Bonsoir, Madame Carlson.“ Lilly verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: „Das war viel zu leicht.“
Véronique zog eine Braue in die Höhe. „Ich möchte mich Ihnen vorstellen. Ich bin Miss Lilly Carlson.“
„Je m’appelle Mademoiselle Lilly Carlson.“
Véronique bemühte sich, nicht zu lächeln, war aber insgeheim stolz auf ihre junge Schülerin und wollte sie noch einmal testen. Sie war sicher, dass Lilly sich an den Abend erinnern würde, an dem das passiert war. „Ich habe die Tür zu meinem Zimmer zugemacht und den Schlüssel darin vergessen.“
Mit einem Grinsen hob Lilly selbstbewusst das Kinn. „J’ai fermé la porte de ma chambre et j’ai laissé la clé à l’intérieur.“
Véronique blieb an der Ecke stehen und klatschte leicht. „Magnifique! Ich bin sehr beeindruckt, Lilly. Du bist eine eifrige Schülerin und hast eine schnelle Auffassungsgabe. Ich schreibe dir sehr gern mehr Sätze auf. Ich mache es noch heute Abend … sofort nach deiner ersten Unterrichtsstunde, in der du übst, einen Knicks zu machen.“ Sie zwinkerte. „Du hast gedacht, das hätte ich vergessen, nicht wahr?“
Lillys Grinsen verriet, dass sie genau diesen Verdacht gehegt hatte. „Danke! Ich kann es kaum erwarten!“
In der Hoffnung, die Stunde würde für das Mädchen nicht in Frustration enden, deutete Véronique in Richtung des Mietstalls am anderen Ende der Straße. „Aber nun habe ich einen Termin bei Monsieur Sampson. Ich muss mich also verabschieden.“
„Das macht nichts. Ich habe auch einen Termin. Und dann muss ich zur Arbeit.“ Lilly umarmte sie schnell. „Wir könnten uns heute Abend nach dem Abendessen im Restaurant des Hotels treffen. Und noch etwas: Ich werde am übernächsten Sonntag eine Freundin unserer Familie besuchen. Sie wohnt ein Stück außerhalb der Stadt, und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht mitkommen wollen.“ Ihre dunklen Brauen zogen sich nach oben. „Mama wird ihre Hafermuffins mit selbst gemachter Erdbeermarmelade backen, und Miss Maudie wird uns sicher welche davon abgeben.“
Nach der gestrigen Fahrt nach Jenny’s Draw war die Vorstellung, in einem Wagen irgendwohin zu fahren, überhaupt nicht verlockend, aber der Gedanke, mit Lilly zusammen
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