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Land des Todes

Land des Todes

Titel: Land des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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weshalb ich nicht unverzüglich die Anstellung gewechselt habe, als ich sah, zu welch schrecklicher Gewalt Lina fähig war. Die Wahrheit ist, dass ich mich persönlich nie vor ihr gefürchtet habe. Der Tod des Zauberers entsetzte mich zwar mehr als alles andere, was ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte, dennoch empfand ich danach höchstens noch mehr Loyalität zu meiner Herrin.
    Lina konnte mich über alle Maßen zur Verzweiflung treiben, und oft beunruhigte sie mich, aber für ein Ungeheuer habe ich sie nie gehalten. Zudem vergisst man nur zu leicht, wie jung wir damals waren! Wir alle, Lina, Tibor, Damek, ich selbst, waren noch kaum dem Kindesalter entwachsen. Welche Hoffnung bestand für uns schon, selbst für die Eigenwilligsten unter uns, das eigene Schicksal selbst zu bestimmen? Wenn ich zurückblicke, frage ich mich, was aus uns hätte werden können, wenn wir in eine andere Welt hineingeboren worden wären. Aber das ist genau so müßig, wie sich zu fragen, wie unser Leben wohl aussähe, wenn wir völlig andere Menschen wären.
    Letztlich erwies ich mich als die Glücklichste von uns, was daran lag, dass ich zugleich die Unbedeutendste war – ja, es kann durchaus sein Gutes haben, von gewöhnlicher Geburt zu sein. Da ich weder ein Vermögen noch einen Rang besaß, stand mir mehr Freiheit zu, ich selbst zu sein: Abgesehen von meinen Vertrauten kümmerte kaum jemanden, was ich tat.
    Lina hingegen war vom Moment ihrer Geburt an den prüfenden Blicken aller ausgesetzt gewesen; ihr Leben lang hatte sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, und ein jeder, den sie kannte, mich selbst eingeschlossen, hatte versucht, ihr wildes Wesen zu etwas Fügsamerem umzuformen. Sie glich einem Dornenbusch, der das Pech hatte, an einemWandspalier entlangzuwachsen, und der seine Borstigkeit und Unbezähmbarkeit nie verleugnen konnte, ganz gleich, wie sorgsam er gestutzt wurde.
    An jenem Tag begriff ich, dass Linas Verhalten ebenso sehr durch die Umstände erzwungen wurde wie durch ihre wilde Natur. Sich selbst überlassen, hätte sie vielleicht eine Balance gefunden, doch so, wie sie von anderen bedrängt wurde, bald hierhin gezogen, bald dorthin, konnte sie nie das innere Gleichgewicht erzielen, das sie so dringend gebraucht hätte.
    Seit ihrer Geburt galt sie als unnatürlich, als Dämon, als ungeheuerliche Kreatur, die vernichtet werden musste. Hätte sie Ezra nicht getötet, hätte er sie ermordet: Hätte sie ihm ihre Kehle darbieten sollen wie ein Lamm seinen Hals dem Schlächter? Wäre es Ezra gelungen, seine Absicht zu verwirklichen, so hätte niemand die Hand gegen ihn erhoben, denn er hätte im Sinne des Brauchtums gehandelt. Hätte sich ein Mann so verteidigt, wie es Lina tat, hätte niemand etwas dagegen gesagt, denn jener Mann hätte als Zauberer gegolten. Die Angelegenheit wäre als »Sache der Zauberer« und daher als nicht die unsere betrachtet worden.
    Linas einzig wahres Verbrechen bestand darin, eine Frau zu sein. Eine Frau mit Kräften und Instinkten, die man nur für einen Mann als geziemt betrachtete. Sie war nicht die Erste und gewiss nicht die Letzte, die sich in dieser misslichen Lage befand. Aber ich kannte sie gut, und trotz all ihrer Fehler, um die ich besser wusste als sonst jemand, konnte ich sie nicht für unnatürlich ansehen. Ist es denn unnatürlich, wenn sich jemand den schlichten Geboten seines Herzens hingibt? Warum fügen wir uns in die Ketten, die uns binden, vergießen unser Blut, um das Säckel des Königs zu füllen, und ersticken die Sehnsüchte in unserer Brust? Ist das der wahre Grund, weshalb jemand wie Lina nicht geduldet werden kann? Weil allein schon ihre Existenz unsere persönliche, uneingestandene Schande enthüllt, unsere geistige Armut?
    Diese Fragen überkamen mich an jenem Tag mit der Wuchteiner Offenbarung. Es war, als hätte sich ein Schleier von meinen Augen gehoben: Ich nahm die Dinge um mich herum völlig neu wahr, als wäre ich erneut geboren worden. Ich hatte für Lina schon immer die Hingabe und Liebe einer Schwester empfunden; nun gesellte sich so etwas wie die Loyalität einer Geschlechtsgenossin hinzu. Sie entfachte in mir einen Zorn, der angesichts der abscheulichen Ungerechtigkeiten dieser Welt nie erloschen ist.
    Der Leichnam des Zauberers wurde an jenem Nachmittag fortgeschafft – kein leichtes Unterfangen, wie ich mich entsinne, da sich der Schürhaken, der seinen Schädel an die Dielen nagelte, tief ins Holz gebohrt hatte. Lina wurde aus der

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