Land des Todes
war ich nicht Lina.
Mit alldem im Kopf war ich froh über die stille, praktische Hilfe meiner Mutter. Sie hob mir die Last der Verantwortung von den Schultern. Solange sie hier war, brauchte ich nicht das Gefühl zu haben, mich um alles kümmern zu müssen.
Tibor verbrachte den Großteil des Tages nach einem kurzen Besuch bei seiner Gemahlin in der Küche, wo er seine Gewehre reinigte. Er war uns im Weg, doch niemand beschwerte sich, weil er so unverkennbar den Trost weiblicher Betriebsamkeit brauchte.
Niemand verlor ein Wort über die unverhoffte Verwandlung von Linas Augen, aber alle wussten darüber Bescheid, wie es nun mal bei Neuigkeiten ist, die sich auf geheimnisvolle Weise verbreiten. Ich war überzeugt davon, dass die Kunde mittlerweile auch das Dorf erreicht haben musste, und fürchtete stündlich einen Besuch des Zauberers Ezra.
Der Arzt traf wie versprochen ein, überprüfte Linas Temperatur und schaute nach wie vor ernst drein. Mittlerweile war Lina erwacht, verlangte etwas zu trinken, weigerte sich jedoch aller Überredungskunst zum Trotz, etwas zu essen, obwohl sie seit dem Vortag kaum etwas zu sich genommen hatte. Wir unterließen es, sie zu bedrängen. Sie klagte darüber, dass sich ihre Brüste heiß anfühlten und schmerzten. Das lag daran, dass sie das Kind nicht stillte, und der Arzt zeigte mir, wie ich ihr Ungemach lindern konnte, was sich schwierig gestaltete, weil Lina bei meiner Berührung zusammenzuckte. Es war die schlimmste mehrerer unangenehmer Pflichten, die zu meinen üblichen Aufgaben hinzukamen. Der Arzt meinte, dass ihre Milch in wenigen Tagen versiegen würde, aber wir müssten auf Milchfieber achten.
Lina schlief den Großteil des Tages und nahm zu Mittag etwas Suppe zu sich. An jenem Abend wirkte sie lediglich müde, und ihre Haut blieb kühl, aber sie durchlebte Augenblickeder Unvernunft, die mich beunruhigten. Einmal, ich musste abermals ihre Laken wechseln, setzte ich sie behutsam auf den Stuhl neben dem Bett. Sie erhob keinen Widerspruch und schien zunächst ganz sie selbst zu sein, dann jedoch drehte sie sich mir mit leuchtenden Augen zu.
»Anna, wie wunderschön die Vögel sind!«
Ich erwiderte, dass die Vögel in der Tat wunderschön seien. Lina lächelte strahlend und streckte die Arme aus. »Sieh nur, sie lassen sich sogar auf meiner Hand nieder! Ich habe nie gewusst, dass ihr Gefieder so bunt ist!«
Erschrocken starrte ich sie an, aber im nächsten Moment wurde ihr Blick umwölkt, und sie schien vergessen zu haben, dass sie Vögel gesehen hatte. Dann erkundigte sie sich gereizt, wo Damek steckte. Dankbar dafür, dass Tibor nicht anwesend war, erklärte ich ihr, dass Damek nicht kommen könne. Darob traten ihr Tränen in die Augen wie einem kleinen Kind, dem eine Leckerei verwehrt worden war.
»Er kann nicht kommen? Aber er hat es versprochen! Und er bricht seine Versprechen nie. Er hat gesagt, er würde selbst dann zu mir kommen, wenn ich am Ende der Welt oder in der Hölle weilte!«
Ich gab beruhigende Laute von mir, half ihr zurück ins Bett und meinte, ich sei sicher, Damek würde schon bald erscheinen. Gehorsam legte sie sich hin, ehe sie hochschreckte, als hätte sie ein fürchterlicher Gedanke ereilt.
»Anna, liegt es daran, dass ich im Himmel bin und ihn die Engel nicht hereinlassen? Sein Herz ist zu schwarz, Anna, auf seiner Seele lasten zu viele Todsünden, und er sagt, Gott habe ihn verflucht – aber trotzdem könnte er mich doch gewiss holen kommen, wenn ich im Himmel wäre, oder? Ich bin sicher, es ist ein Irrtum …«
Ich versicherte ihr, dass sie nicht im Himmel sei, sondern in ihrem Schlafzimmer in der Manse, was sie schließlich zu beruhigen schien, und nach einer Weile sprach sie wieder vernünftig. Ich verabreichte ihr eine Dosis Laudanum, und letztlich schlief sie ein. Ich beobachtete, wie ihre Lider zuckten. Dabei ging mir durch den Kopf, dass sie den ganzen Tag lang kein einziges Mal nach ihrem Kind oder Tibor gefragt hatte.
Am nächsten Tag schien es ihr erheblich besser zu gehen, und es gelang ihr sogar, freundlich zu ihrem Ehemann zu sein, aber gegen Abend umwölkte sich ihr Verstand erneut. Kurze Zeit glaubte sie, in ihrem Kinderzimmer im Roten Haus zu sein, wo sie darauf wartete, dass Damek käme, um mit ihr zu spielen. Ich nahm mich jedes Zwischenfalls an, wie er kam, und unterdrückte meine Ängste. Ich vermute, dass ich von meiner Unwissenheit geschützt wurde; schließlich unterschied sich Linas geistige Umnachtung nicht so
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