Land des Todes
ich zu Mitleid gerührt. Ich bin nicht sicher, ob ich einen Menschen je mehr bemitleidet habe als Damek in jenem Augenblick. An jenem Vormittag – war es tatsächlich derselbe Vormittag gewesen? – hatte er zu mir gesagt, dass er in der Hölle lebe. Ich hatte angenommen, dass er aus Selbstmitleid übertreibe; doch als ich in jener Nacht sein Gesicht sah, da glaubte ich ihm.
»Gott sei Dank«, sagte er schließlich. »Da ich nicht bei ihr sein kann, stehe ich seit all den Stunden hier, und als alles ruhig wurde und ich sah, wie du in der Kutsche mit dem Kind aufgebrochen bist, da war ich sicher, sie müsse gestorben sein. Ich konnte sie bis hierher schreien hören.«
»Es war keine einfache Geburt«, erwiderte ich in sanfterem Tonfall. »Sie schläft jetzt. Damek, Sie sollten nach Hause gehen und selbst etwas schlafen. Sie sehen elend aus.«
»Nein. Was, wenn sie im Schlaf stürbe und ich wäre nicht hier?«
»Der Arzt sagt, dass sie gesund wird«, gab ich zurück.
Er musterte mich. »Ich weiß, dass du lügst. Was hat er wirklich gesagt?«
Ich zögerte, dann berichtete ich ihm, was mir der Arzt erklärt hatte. Eine Weile schwieg Damek, ehe er meine Hand ergriff.
»Du bist eine gute Freundin«, befand er mit unerwarteter Herzlichkeit. »Du beruhigst mich. So wahr mir Gott helfe, ich stehe seit Sonnenuntergang hier, überzeugt davon, dass sie tot sein müsse, und ich habe mich nicht getraut, jemanden zu fragen, ob es stimmt. Du kennst die Dämonen in meinem Kopf nicht … ich war schon drauf und dran, mich zu erhängen. Eine Mahnung für ihren Mörder, eine Leiche, die von seinem Baum heruntergrinst, ein Geschenk aus meinem zerstörten Leben! Aber was hätte es für einen Sinn gehabt? Gar keinen hätte es gehabt. In meinem Herzen ist eine solche Schwärze, Anna! Kein einziger Lichtschimmer, der mich leitet! Weißt du, ich habe sogar gebetet. Zu Gott gebetet. Ich! Und mein Gebet ging hinaus in das leere Universum zu all den toten Sternen, und nichts kam zurück, gar nichts. Da war nichts. Ich habe es immer gewusst, aber ich habe nie zuvor gefühlt, wie groß dieses Nichts ist, und ich war allein in der Dunkelheit, ohne irgendetwas, das mich getröstet hätte …«
Ich zog die Hand aus der seinen. Seine Worte ängstigten mich, noch mehr jedoch ängstigte mich seine Miene. Seine Zähne blitzten weiß im Mondschein auf, als er sprach, und seine Augen starrten finster aus dem gequälten Antlitz. In diesem Moment war ich überzeugt davon, dass er wahnsinnig war.
»Sie schläft jetzt«, wiederholte ich. »Und das sollten Sie auch tun.«
Kurz lachte er. »Schlafen? Wenn ich nur könnte. Ich kann nicht schlafen. Ich danke dir für deine Anteilnahme, dir von all den Geschöpfen auf dieser von Gott verlassenen Welt. Nein, ich bleibe hier und wache über sie. Du brauchst dichnicht zu sorgen, niemand wird mich sehen. Geh du zurück zu Lina.«
Ich wünschte ihm Gottes Segen, obwohl ich wirklich nicht wusste, wie ihm das helfen sollte, und ging langsam zum Haus. Als ich den Eingang erreichte, schaute ich zurück: Wenn ich genau hinsah, konnte ich undeutlich seine aufrecht stehende Gestalt neben dem Stamm der Kiefer erkennen, wo er seine sinnlose Wache hielt.
XXIX
In jener Nacht scharten sich die Wolken zusammen, und als die Sonne aufging, regnete es stetig.
Nachdem ich meine morgendlichen Aufgaben erfüllt hatte, sah ich nach Lina, die nach wie vor schlief. Meine Mutter hatte bei ihr gesessen und erzählte mir, dass Lina bisweilen von großer Unruhe heimgesucht worden war. Mir fiel Röte in ihren Wangen auf, und ich kehrte besorgt in die Küche zurück.
Ich schaute aus dem Fenster, um nachzusehen, ob Damek immer noch dort stand. Er war fort, aber unter dem Baum, wo er gestanden hatte, war das Gras von seinem Auf- und Ablaufen zertrampelt. Es sah aus, als hätte sich dort eine ganze Rinderherde aufgehalten.
Durch die Ereignisse des Vortags hatten sich eine bleierne Müdigkeit in meinen Körper und tiefe Wehmut in meine Seele eingenistet. Der Regen, der den ganzen Tag lang grau und unermüdlich anhielt, passte zu meiner Stimmung. Ich fühlte mich schwerfällig und träge, und ich wünschte mir, wieder im Palast zu sein, wo ich klare und anspruchslose Pflichten gehabt hatte. Ich vermisste Zef, und aus schierer Einsamkeit erwog ich, ihm einen Brief zu schreiben. Ich überlegte es miranders; er hatte sich noch nicht geäußert, und eine solche Kontaktaufnahme wäre ein dreister Akt meinerseits gewesen. Schließlich
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