Landgericht
Warme, duftende Sommerluft wehte ihm entgegen. Zu Fuß waren es nur gut hundert Meter. Er überquerte den Bahnhofsvorplatz. Von Weitem konnte er das Haus seiner Eltern sehen.
8
Ein Gerichtsdiener öffnete die Saaltür für die Zuschauer. Hambrock mischte sich unter das Volk und suchte sich in der letzten Reihe einen freien Platz. Eine ungewohnte Perspektive, das Geschehen von den Zuschauerreihen aus zu betrachten. Journalisten schlugen sich um die wenigen freien Plätze am Pressetisch. Wer zu spät kam, musste mit den Klappstühlen Vorlieb nehmen, die von den Gerichtsdienern herbeigetragen wurden.
Hambrock entdeckte unter den Presseleuten ein paar bekannte Gesichter, doch keiner machte sich die Mühe, zu den Zuschauerreihen zu blicken. Das sollte ihm nur recht sein. Er hatte keine Lust, zu irgendwelchen Stellungnahmen gedrängt zu werden. Schließlich war er privat hier, und das sollte auch so bleiben.
Bald war jeder Platz besetzt. Wer jetzt noch kam, musste draußen bleiben. Nachdem die Türen geschlossen waren, kehrte langsam Ruhe ein. In der Wandvertäfelung öffnete sich eine weitere verborgene Tür, und die Angeklagten wurden hereingeführt.
Ein Blitzlichtgewitter ging los. Die jungen Männer schützten die Gesichter mit den Händen und staksten wie ferngesteuert zu ihren Plätzen. Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger folgten ihnen und nahmen ebenfalls Platz. Dann betrat Richterin Schniederjohann mit ihrem Tross den Saal. Schöffen und Beisitzer maschierten hinter ihr her, und alle nahmen an der Richterbank Platz.
Als erste Zeugin wurde Dr. Hannah Brüggen gehört, die Rechtsmedizinerin, die Marius Baar obduziert hatte. Als sich die Tür öffnete und ein Gerichtsdiener sie hereinführte, war es, als beträte ein hochbezahltes Model den Saal. Alle starrten die Ärztin an. Sie bewegte sich wie eine Raubkatze, anmutig, stolz und mit der Aura einer gewissen Gefährlichkeit. Sie schenkte den Anwesenden ein perlendes Lächeln, warf die blonden Haare zurück und nahm schwungvoll auf dem Zeugenstuhl Platz. Hambrock lächelte. Es lag schon eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet so eine Frau den ganzen Tag allein im düsteren Keller der Rechtsmedizin hockte und übel zugerichtete Leichen auseinanderschnitt.
Bevor die Richterin mit der Befragung begann, wandte sie sich an den Tisch mit den Nebenklägern, an dem auch Klaus Baar und seine Tochter Nicole Platz genommen hatten.
»Bevor wir die Zeugin befragen, möchte ich mich kurz an die Angehörigen wenden«, begann sie. »Sie wissen ja, dass es jetzt darum gehen wird, wie Marius Baar ums Leben gekommen ist. Ich will Sie nicht auffordern, den Saal zu verlassen, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es schmerzhaft für Sie sein könnte, mit den Details konfrontiert zu werden.«
Noch bevor sie ihre kleine Ansprache beendet hatte, wurden bereits Stühle gerückt, und Klaus Baar machte sich mit seiner Tochter auf den Weg nach draußen. Als sie fort waren, wandte sich die Richterin an die Gerichtsmedizinerin.
»Schildern Sie doch bitte zunächst einmal dem Gericht, zu welchen Ergebnissen Sie bei der Obduktion gelangt sind.«
Hannah Brüggen rückte das Mikrofon zurecht. »Die Obduktion des Marius Baar fand am 19. Juni im Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Münster statt. Die Sektion wurde elf Stunden nach Eintritt des Todes vorgenommen. Der äußere Befund zeigte zunächst zahlreiche Abschürfungen und Hämatome an Armen, Beinen und Oberkörper. Dazu Platzwunden an der Schulter und an beiden Schienenbeinen. Besonders auffällig waren jedoch die massiven und vielfältigen Kopfverletzungen, die letztlich auch zum Tod geführt haben.«
Der monotone Vortrag der Ärztin rauschte an Hambrock vorbei. Er kannte den Obduktionsbericht bereits und interessierte sich eher dafür, wie die Angeklagten die Ausführungen aufnahmen. Sorgsam studierte er ihre Gesichter, während Dr. Brüggen die Folgen ihrer Gewalttat in nüchternem, medizinischem Fachjargon vorgetrug.
Dennis Gröver, der am Vortag während der Verhandlung einen Zusammenbruch erlitten hatte, wirkte noch immer ziemlich mitgenommen. Hambrock sah ihm die Qualen deutlich an. Jedes Wort der Medizinerin schien wie ein Messerstich zu sein. Dem Jungen war klar: Sie waren es, die das alles getan hatten. Sie trugen die Verantwortung für jede dieser Verletzungen, die Dr. Brüggen kühl und sachlich beschrieb. Hambrock fragte sich, ob der Junge heute wohl durchhalten
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