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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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sein Vater durfte nichts davon erfahren. Erst wenn Marius auf der anderen Seite des Ozeans wäre, würde er zu Hause anrufen und sagen, was los war. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel vor Aufregung.
    Seinen Mercedes SLK würde er wohl nicht mitnehmen können. Es würde ihm schwerfallen, sein Auto hierzulassen, besser, er dachte nicht so genau drüber nach.
    »Du hast ein Auto?«, fragte Nathalie. »Davon weiß ich ja gar nichts.«
    »Einen Mercedes SLK. Ein Sportwagen.« Er lächelte. »Nun ja, angemeldet ist er auf meinen Vater. Deshalb gehört er mir wohl nicht wirklich, auch wenn ich ihn fahre.«
    »Aber… ich wusste gar nicht…«
    »Du meinst, weil ich mit dem Zug zur Uni fahre? Es gibt kaum Parkplätze an der Uni, und außerdem gehe ich abends gern noch einen trinken. Mit dem Wagen fahr ich, wenn ich nicht in der Uni bin.«
    »Hm. Aber ist das ein Problem? In Köln oder Berlin brauchst du kein Auto.«
    »Nein, wahrscheinlich nicht.«
    Trotzdem würde ihm die Trennung schwerfallen. Er dachte an das gute Gefühl, das er empfand, wenn er im Wagen saß, Gertenbeck hinter sich ließ und über die Landstraßen jagte. Der Mercedes war geschmeidig wie ein Raubtier. Perfekt, um den Kopf freizubekommen. Doch wenn er ihn einfach heimlich mitnahm, würde sein Vater ihn gestohlen melden. Darauf konnte er wetten. Wenn Marius ging, musste er alles hinter sich lassen. Dessen war er sich bewusst.
    Nathalie wickelte die Bettdecke um ihren nackten Oberkörper. Sie sah ihn an, mit diesem für sie typischen nachdenklichen Blick. Als würde sie seine Seele scannen.
    »Kannst du das, Marius? Traust du dir das zu?«
    »Was meinst du? Den Mercedes in Gertenbeck lassen?«
    »Nein. Ich meine, alles hinter dir zu lassen. Dein ganzes Leben.«
    »Natürlich. Das ist es, was ich mir wünsche.«
    Sie wirkte nicht überzeugt.
    »Das wünsche ich mir mehr als alles andere«, meinte er eindringlich. »Die Firma, meine Eltern, Nicole. Das ist doch ein Albtraum. Ich will weg, natürlich.«
    Eine Weile betrachtete sie ihn nachdenklich, dann begann sie zu lächeln.
    Der Signalton der Lok pfiff durch den Abendhimmel, dann überquerte der Zug eine kleine Landstraße. Das Großraumabteil war inzwischen beinahe menschenleer. Marius legte die Stirn gegen die Scheibe.
    Wenn Nathalie bei ihm war, schien alles ganz leicht zu sein. Dann hatte er keine Angst vor der Zukunft. Doch sobald er allein war, fragte er sich plötzlich, ob er wirklich die Kraft hätte, sich gegen den Willen seines Vaters aufzulehnen.
    Marius sollte das Erbe seines Vaters antreten. Er war der erstgeborene Sohn. Auch wenn sie inzwischen im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten, war das für seinen Vater entscheidend. Traditionen bedeuteten ihm viel. Dabei wäre Nicole die bessere Unternehmenschefin. Bei aller Eifersucht, die er dabei empfand, konnte er das nicht verleugnen. Marius hatte sein Leben lang gegen Nicole gekämpft, gegen ihre Überlegenheit. Sie hatte immer ein besseres Gespür fürs Unternehmen gehabt.
    Marius wusste nicht, ob er für irgendetwas ein besonderes Talent besaß, doch für die Unternehmensführung ganz sicher nicht. Es mangelte ihm auch an jeglicher Leidenschaft. Seine Motivation, sich für die Firma zu engagieren, speiste sich hauptsächlich aus der Angst vor seinem Vater. Und die Angst, dass Nicole ihn allzu augenscheinlich überflügeln würde. Eine andere Motivation gab es nicht.
    Konnte er wirklich aus allem ausbrechen? Einfach so? Hier im Zug und auf dem Weg nach Hause, weit entfernt von Nathalies chaotischem WG-Zimmer, sah alles anders aus. Was, wenn es doch nur ein schöner Traum war? Wenn er es am Ende nicht schaffte zu gehen?
    Auf ihrem Bett hatte Nathalie sich eine Zigarette angezündet, den Rauch in die Luft geblasen und ihn fixiert.
    »Die Frage ist, Marius: Hast du Mut?«
    »Natürlich habe ich Mut. Was denkst du?«
    Sie sagte nichts.
    »Ich bin mein eigener Herr. Keiner darf mir in etwas reinreden. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.«
    »Gut. Dann glaube ich dir.«
    Die nächste Station wurde angesagt: Gertenbeck am See. Marius stand auf, nahm seine Tasche und trat an die Tür.
    Nathalie hätte es nicht treffender formulieren können. Die Frage war: Hatte er ausreichend Mut, um das hier durchzuziehen? Er wünschte, er könnte das mit einem klaren Ja beantworten. Doch so war es nicht. Er hoffte, genügend Mut zu haben. Er war bereit zu kämpfen. Die nächsten Tage würden zeigen, ob er stark genug war.
    Der Zug hielt, und er stieg aus.
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