Landgericht
sie.
Er befreite sich aus ihrer Umarmung.
»Es geht nicht anders«, sagte er. »Ich muss in die Firma. Da sind Großkunden aus Österreich. Vater will, dass die mich kennenlernen.«
»Aber wir sind in einer Woche weg. Warum willst du dir das jetzt noch antun? Das hat doch keinen Sinn.«
»So lange ich hier bin, spiele ich das Spiel mit. Und heute Abend bin ich wieder da.«
Sie wirkte enttäuscht, und er konnte es verstehen. Dieser wunderschöne Sommertag war wie für sie geschaffen. Ein Tag für Verliebte. Und er ließ sie allein und fuhr ins Unternehmen.
»Bitte, Nathalie. Ich weiß, es ist blöd. Aber ich muss das auf meine Weise tun.«
Sie lächelte resigniert, strich ihm über die Wange und gab ihm einen Kuss. Sie war einverstanden.
»Halte das Bett für mich warm«, sagte er. »Ich beeile mich.«
Mikey schlurfte in die Küche, schon wieder eine Kippe im Mundwinkel. Er war kurz in seinem Zimmer verschwunden, offenbar um etwas zu holen. Ein unförmiges, in Zeitungspapier eingewickeltes Paket. Marius zog verwundert die Augenbrauen zusammen.
»Das ist für euch«, sagte er und grinste. Er übergab Nathalie das Paket. »Ein Geschenk für die neue Wohnung.«
»Ein Geschenk? Was kann das sein?«
Nathalie stellte es auf den Küchentisch und riss das Zeitungspapier auf. Ein Hirschgeweih in grellen Neonfarben kam zum Vorschein. Eine riesige, leuchtend bunte Scheußlichkeit.
»Ich dachte, das ist perfekt für euer Klo«, sagte er.
Dann trat Mikey auf Marius zu und legte den Arm um seine Schultern.
»Ich wünsch euch viel Glück. Pass gut auf mein Mädchen auf.«
Er umarmte ihn und boxte Marius freundlich in die Rippen. Eine Geste voller Herzlichkeit. Marius schämte sich für seine Eifersucht. Er hätte Nicoles Worten niemals so viel Raum geben dürfen.
Unten auf der Straße warf er seine Tasche auf die Rückbank des Mercedes und schwang sich hinters Steuer. Auf der anderen Straßenseite ein Schatten, der in einem Hauseingang verschwand. Er hielt inne. Der Mann mit den Aknenarben. Marius hatte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, dennoch hätte er schwören können, das war der Typ aus dem Regionalzug, der da in dem Hauseingang verschwunden war. Mit gerunzelter Stirn starrte er hinüber. Doch nichts. Alles blieb unbewegt. Schließlich schüttelte er den Kopf und startete den Motor. Wahrscheinlich bildete er sich alles nur ein.
Berlin. Am Wochenende waren er und Nathalie dort gewesen und hatten sich die Wohnung angesehen, die Mikey ihnen besorgt hatte. Er hatte seine Kontakte genutzt und tatsächlich etwas organisiert, was preislich in einem Rahmen war, den sie sich leisten konnten. Eine Altbauwohnung in Neukölln. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Hohe Decken, enge Räume, wenig Licht. Vor den Fenstern ein schmaler Hinterhof, bei dem Marius das Gefühl hatte, zu den Nachbarwohnungen hinübergreifen zu können. Alles in allem nicht unbedingt der Traum einer eigenen Wohnung.
Doch Nathalie war ganz begeistert gewesen. Als wäre es keine düstere Mietskaserne, die sie da besichtigt hatten, sondern ein helles Barockschloss. Da war ein Funkeln in ihren Augen gewesen, das Marius bereits kannte: Freiheit. Das war es, was diese dunkle enge Wohnung für sie bedeutete. Freiheit.
Marius wollte sich so gern anstecken lassen. Er hätte es liebend gern mit ihren Augen gesehen. Aber er sah nur den Dreck im Hausflur, die Graffitis an den Briefkästen und die vielen Schimmelflecken an den Wänden. Der Innenhof war voller Müll und Hundekot gewesen. Schmutziger, aufgesprungener Asphalt, nirgendwo Grün und mittendrin ein rostiger ausgeschlachteter Golf, wie in einer Geisterstadt. Und in der Wohnung überlegte er unentwegt und wie unter Zwang, welche Krankheitserreger dort wohl umherschweben mochten.
»Diese Wand hier streichen wir gelb«, meinte Nathalie begeistert. »Das wird unser Wohnzimmer. Und die Dielen ziehen wir ab. Warte nur, Marius, das wird großartig aussehen.«
»Und was ist mit dem Bad? Den Armaturen?«
Die sahen nämlich grauenhaft aus. Verrostet, verkalkt und halb aus der Wand gerissen.
Nathalie lachte. »Die putzen wir. Keine Angst, Schatz, wir machen es uns richtig hübsch hier.«
Putzen. Als wenn das etwas an dem maroden Zustand der Wohnung ändern würde.
»Ich weiß nicht, Nathalie. Vielleicht sehen wir uns doch lieber nach etwas anderem um. Wir müssen ja nicht gleich das erstbeste Angebot nehmen.«
»Die Wohnung ist ein absolutes Schnäppchen. Wenn wir bei dem Mietpreis bleiben wollen,
Weitere Kostenlose Bücher