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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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Und überhaupt: Willst du einer sein, der sich am Rockzipfel seiner Freundin festhalten muss?«
    Marius starrte schweigend auf die Tischplatte.
    »Du weißt, du wirst das nicht schaffen, Marius. Eine hübsche romantische Idee. Aber die Realität sieht anders aus. Du wirst dich vor dem Dreck ekeln und auch vor den Menschen. Du wirst keine gemeinsame Sprache mit ihnen finden. Sie werden dich nicht willkommen heißen. Du wirst grandios untergehen.«
    Marius war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er wollte diesen Traum nicht aufgeben. Ein gemeinsames Leben mit Nathalie. Ein Leben, auf das seine Familie keinen Einfluss ausüben konnte.
    Sein Vater sah, dass er zweifelte und mit sich kämpfte. Offenbar war es genau das, was er erreichen wollte, denn jetzt lehnte er sich zurück und stieß geräuschvoll die Luft aus. Eine typische Geste, mit der er Besprechungen zu beenden pflegte.
    »Geh«, sagte er knapp. »Verschwinde von hier.«
    Marius war perplex. Was passierte denn jetzt?
    »Ich will dich nie wiedersehen.«
    »Aber… ich verstehe nicht…«
    »Ich habe deine Konten sperren lassen, du weißt ja, dass ich die Vollmacht habe. Deine anderen Vermögenswerte laufen ohnehin über die Firma, da kommst du nicht mehr ran. Der Mercedes bleibt auf dem Hof. Du kannst zu Fuß gehen oder den Bus nehmen, mir egal. Gewöhn dich schon mal daran. Und jetzt raus mit dir.«
    Marius blieb schreckensstarr sitzen. Er fühlte sich wie nach einer Achterbahnfahrt.
    Sein Vater donnerte mit der Faust auf den Tisch.
    »Raus mit dir!«, brüllte er.
    Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. In seinem Blick loderten Wut und Hass.
    »Raus – oder ich vergesse mich!«
    Wie ferngesteuert erhob Marius sich und stakste aus dem Zimmer. Völlig benommen schloss er die Tür hinter sich und taumelte zum Treppenhaus. Er konnte nichts denken und nichts fühlen. Frau Gärtner, die im Erdgeschoss hinterm Empfang saß, sah ihn kommen. Bestürzung trat in ihr Gesicht. Er achtete nicht auf sie und steuerte die Tür an. Raus ins Freie.
    Erst als er das Gelände verlassen hatte und sich nach der Bushaltestelle umsah, drang zu ihm durch, was gerade passiert war. Es war vorbei. Sein Vater konnte ihm nichts mehr antun. Er hatte es überstanden.
    Aus seiner Benommenheit formte sich ein einzelner klarer Gedanke heraus. Eine Frage. Marius blinzelte gegen die Sonne und atmete die Sommerluft ein. Er fragte sich: Bin ich jetzt frei?

21
    Hambrock warf die Autotür ins Schloss und überquerte die Straße. Vor ihm ein typischer Mehrzweckbau aus den Siebzigern. Betonfassade, Flachdach, schmucklose Fensterreihen. Ein großer, hässlicher Kasten. Zur Straßenseite prangten riesige Graffiti an den Wänden, die Fensterrahmen waren bunt angemalt, und über dem Eingang hing ein selbstgebasteltes Schild: Jugendzentrum Gertenbeck am See.
    Nie im Leben hätte er damit gerechnet, einen Filius der Familie Baar in seiner Freizeit hier anzutreffen. Aber vielleicht wussten die Eltern ja auch gar nichts davon, dass ihr jüngster Sohn nach der Schule gern hierherging. Das war ihm damals schon aufgefallen, als sie nach dem Tod von Marius die Familie näher kennengelernt hatten: Die Aufmerksamkeit von Klaus Baar und seiner Frau schien sich nur auf Marius und Nicole zu richten. Die beiden jüngeren Kinder genossen dagegen weitestgehend Narrenfreiheit.
    Hambrock drückte die gläserne Eingangstür auf. Sofort schlugen ihm Lärm und Geschrei entgegen. In der Halle waren ein paar Kicker aufgebaut, umringt von aufgeregten, sich gegenseitig anfeuernden Kindern. An der Wand dahinter standen alte Sofas, auf denen herumgesprungen und geturnt wurde. Und in der Ecke befand sich ein blinkender Flipper, vor dem ein Sozialarbeiter mit Glatze und Jeansjacke und einem Fußball unterm Arm ein paar Jugendliche ermahnte, vorsichtig mit dem Gerät umzugehen.
    Hambrock trat in den Vorraum. Keiner nahm Notiz von ihm. Am anderen Ende der Halle entdeckte er eine Glaswand, hinter dem der Computerraum lag. Und Nils, der mit anderen Jungs vor einem Rechner hockte, auf den Gesichtern der Widerschein des Monitors. Hambrock blickte sich um, dann steuerte er den Computerraum an.
    »Bernhard Hambrock!« Eine Frauenstimme hinter ihm. »Das ist ja eine Überraschung.«
    Eine kleine Frau um die fünfzig trat aus einem Büro. Sie hatte kurzgeschnittenes Haar, weiche mütterliche Züge und trug ein langes Wollkleid. Mechtild Bruns, eine ehemalige Jugendamtsmitarbeiterin aus Münster, die das Jugendzentrum leitete. Hambrock

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