Landgericht
kannte sie noch von seiner Arbeit bei der Sitte. Damals hatte er häufig mit dem Jugendamt zu tun gehabt.
Sie wechselten ein paar freundliche Worte, bevor Mechtild Bruns die Arme verschränkte und sagte: »Was führt dich hierher? Ich schätze mal, dass du nicht gekommen bist, um mich zu besuchen, oder?«
Er lächelte. »Das hätte ich längst mal tun sollen. Aber du hast natürlich recht. Ehrlich gesagt bin ich wegen eines Schützlings von dir hier.«
Ihr Lächeln konnte nicht verbergen, dass sie innerlich in Kampfbereitschaft ging. Es war das alte Spiel: Sozialarbeiter glaubten immer, sie müssten ihre Klientel vor der bösen Polizei in Schutz nehmen. Vor den herzlosen und schonungslos vorgehenden Beamten. In ihren Augen waren die sozial Schwächeren nicht nur in der Regel unschuldig. Sie waren zudem noch der Polizei hilflos ausgeliefert. Als wenn es den Beamten darum gegangen wäre, Leute zu drangsalieren, die sich nicht wehren konnten. Mechtild Bruns musste es eigentlich besser wissen. Zumindest was Hambrock betraf. Aber auch sie machte keine großen Unterschiede: Polizist war Polizist.
Hambrock begriff, dass es keine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Sie würde ihn nicht mit Nils reden lassen.
»Hat denn einer hier etwas angestellt?«, fragte sie.
»Nein, darum geht es nicht.«
»Es muss was Ernstes sein«, fuhr sie unbeirrt fort. »Sonst würdest du nicht persönlich auftauchen. Du bist doch jetzt bei den Kapitalverbrechen, nicht wahr?«
»Schon. Aber wir verdächtigen keinen der Jugendlichen. Ich bin nur gekommen, weil ich sowieso in Gertenbeck war. Euer Zentrum lag sozusagen auf meinem Heimweg.«
Hambrock war zuvor in Nils’ Schule gewesen. Der Junge war das einzige Kind der Baars, das in Gertenbeck zur Schule ging. Offenbar reichte es bei ihm nicht fürs Gymnasium: Er besuchte hier die Gesamtschule. Die Klassenlehrerin hatte kurz mit Hambrock gesprochen und ihm gesagt, wo er Nils finden konnte.
»Es geht um den Baar-Fall«, sagte er. »Du kannst dich sicher noch daran erinnern.«
»Natürlich. Marius Baar. Das war im letzten Sommer.«
Ihr Blick wanderte durch die gläserne Wand in den Computerraum.
»Wirklich eine schreckliche Geschichte«, sagte sie. »Ich habe gehört, die Verhandlung ist unterbrochen worden. Wegen neuer Indizien oder so. Bist du deshalb hier?«
Sie machte einen Seitwärtsschritt und stellte sich zwischen Hambrock und den Computerraum. Er hätte es wirklich vorher wissen müssen. Sie würde den Jungen beschützen wie eine Löwin ihr Junges.
»Für die Familie wäre es besser gewesen, die Sache endlich abzuschließen«, sagte sie. »Wenn du mit ihm reden willst, Bernhard, musst du seine Eltern fragen, das weißt du. Er ist noch ein Kind.«
»Kennst du ihn näher?«, fragte er.
»Nein. Er ist sehr verschlossen. Außerdem kommt er nur selten her. Wenn du mich fragst, bekommt er zu Hause zu wenig Nestwärme. Er wirkt bedürftig. Ein paar seiner Schulfreunde kommen regelmäßig hierher, und manchmal schließt er sich ihnen an. Das ist eine offene Einrichtung, hier darf jeder kommen, der sich an die Hausordnung hält.«
»Ich würde gern mit ihm über seinen Bruder sprechen.«
»Noch mal, Bernhard: Da musst du mit den Eltern reden.«
»Und wenn du dabei wärst? Du kannst mich jederzeit vor die Tür setzen. Alles würde in deiner Hand liegen.«
»Nein, kommt nicht infrage.« Sie kaschierte ihre Entschlossenheit mit einem freundlichen Lächeln.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte er. »Weißt du, wie er über das Verbrechen denkt?«
»Im letzten Sommer, als das alles passiert ist, habe ich ein paar Mal versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber wie gesagt, er ist sehr veschlossen. Er hat mal gemeint, dass das mit Marius ja passieren musste. Wie hätte die Geschichte auch sonst ausgehen sollen? Marius hätte niemals planen dürfen, nach Berlin zu gehen, hat Nils gesagt. Ich fand diese Einstellung sehr fatalistisch. Das eine hatte mit dem anderen nun wirklich nichts zu tun.«
Hambrock glaubte sich verhört zu haben. »Marius Baar wollte nach Berlin?«
Mechtild wirkte erstaunt. »Das wusstest du nicht?«
Er fragte sich langsam, ob sie damals überhaupt etwas gewusst hatten. Schon wieder eine Neuigkeit, die ihn kalt erwischte.
»Marius Baar wollte nach Berlin ziehen?«, wiederholte er ungläubig. »Er war doch jede freie Minute im Unternehmen. Sein Vater hat ihn darauf vorbereitet, den Laden zu übernehmen. Was wollte er da in Berlin? Bist du sicher, dass es
Weitere Kostenlose Bücher