Landgericht
Umzugskisten waren gepackt. Alles war bereit, es sollte eigentlich losgehen. Aber dann … nun, das wissen Sie ja.«
»Wusste ihr Vater denn Bescheid?«
»Ich habe es ihm gesagt.« Sie streckte den Rücken durch. »Als ich den Moment für gekommen hielt.«
Hambrock und Keller wechselten einen Blick.
»Er wird nicht erfreut gewesen sein«, meinte Hambrock.
»Nein. Er war außer sich. Sein Leben lang hatte er alles für Marius getan, zumindest nach seiner Lesart. Und dann so etwas. Er hat Marius rausgeworfen. Seine Konten gesperrt, die Firmenschlüssel einkassiert, den Sportwagen behalten. Und ihn fortgejagt. Marius sollte die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für einen Neustart haben. Kein Geld, keinerlei Unterstützung.«
Das war Hambrock allerdings neu. »Er hat seinen Sohn vor die Tür gesetzt? Wann war das denn?«
»Ein paar Tage vor seinem Tod. Marius hat danach bei Nathalie gewohnt.«
»Aber in der Tatnacht war Marius auf dem Weg nach Gertenbeck gewesen. Weshalb, wenn er dort nicht mehr erwünscht war?«
»Ich glaube, die beiden haben später noch miteinander gesprochen. Ob es so etwas wie eine Versöhnung gab, weiß ich nicht. Mein Vater hat kein Wort mehr über Marius verloren. Aber sein Entschluss war unumkehrbar. Marius war enterbt, und dabei wäre es auch geblieben, ganz egal, ob Marius wieder zu Hause aufgetaucht wäre oder nicht.«
Hambrock nickte. Er wollte an dieser Stelle vorerst nicht weiter nachhaken. Sollte es aber tatsächlich eine Versöhnung gegeben haben, hätte Nicole plötzlich ein starkes Motiv gehabt. Er würde später darauf zurückkommen.
»Sie haben erreicht, was Sie wollten«, stellte er fest. »Marius war raus, und Sie standen als Nachfolge zur Verfügung.«
»Ich bin nicht stolz darauf, Herr Hambrock. Aber es war das Beste. Fürs Unternehmen, für meinen Vater und letztlich auch für Marius.«
»Wo waren Sie eigentlich in der Tatnacht, Frau Baar?«, fragte Keller.
»Bei einer Freundin in Münster.«
»Die kann Ihren Besuch sicher bestätigen.«
»Natürlich. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf.« Sie bedachte Keller mit einem verächtlichen Blick. »Ich glaube, Sie haben gemerkt, dass ich Ihnen gegenüber völlig offen war. Die Geschichte wirft kein gutes Licht auf mich, aber ich werde mich nicht verstecken. Ich habe nichts beschönigt und nichts verschwiegen. Mit dem Tod meines Bruders habe ich aber nichts zu tun. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Da müssen Sie schon jemand anderes finden.«
Sie zückte einen Bleistift und kritzelte einen Namen und eine Adresse auf ein Stück Papier, das sie Hambrock reichte. Dann erhob sie sich.
»Falls Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung«, sagte sie. Es klang, als spräche sie mit einem Mitarbeiter des Unternehmens. »Jetzt habe ich einen wichtigen Termin. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.«
Hambrock sah, wie sich Kellers Widerstandsgeist regte. Er wollte ihr offenbar diese Art nicht durchgehen lassen. Hambrock bedeutete ihm mit einer Geste, sich zurückzuhalten.
»Selbstverständlich, Frau Baar«, sagte er. »Danke, dass Sie hergekommen sind. Und vielen Dank für Ihre Offenheit.«
Draußen im Flur saß die nächste Zeugin bereits auf einer Bank und wartete: Nathalie Brüggenthies. Nicole Baar blieb verwundert stehen. Dann grüßte sie Nathalie mit so viel Herablassung, wie es überhaupt nur möglich war, schob die Sonnenbrille im Haar zurecht und stöckelte davon. Nathalies Mundwinkel sackten herab. Düster blickte sie der Unternehmerstochter hinterher, dann stand sie auf und reichte Hambrock die Hand.
»Frau Brüggenthies. Vielen Dank, dass Sie hergekommen sind. Treten Sie doch ein. Wir haben noch ein paar Fragen an Sie, es wird nicht lange dauern.«
Im Gegensatz zu Nicole Baar nahm sie das Angebot, einen Kaffee zu trinken, dankend an. Keller reichte ihr eine Tasse, und sie setzten sich gemeinsam an den Besuchertisch.
»Wir haben ja schon damals nach der Gewalttat ein längeres Gespräch geführt«, begann Hambrock. »Über Sie und Marius, über Ihre Beziehung, die Familie Baar und den Abend, an dem sich der Übergriff ereignet hat.«
Sie nickte und betrachtete Hambrock wachsam. Offenbar ahnte auch sie, dass die Polizei inzwischen mehr über die Hintergründe erfahren hatte.
»Umso überraschter waren wir zu erfahren, dass Sie und Marius geplant hatten, nach Berlin durchzubrennen. Marius war daraufhin von seiner Familie vor die Tür gesetzt worden. Wenn ich richtig informiert bin,
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