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Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Haar, das von
    einem Mittelscheitel aus streng nach hinten genommen
    war, wie auf einer Daguerreotypie eines Vorfahren. Sie hat-
    te blaues Blut und eine verletzte Anmut. Ihre Familie hatte
    das Geld, mit dem Roscoe eine kleine, schlecht gehende
    Anwaltskanzlei in der Stadt aufrechterhielt, wo er die Erb-
    angelegenheiten von Freunden regelte und, dank langer
    Ansässigkeit, Zugriff auf Fälle der Stadtverwaltung hatte.
    Im späten Stadium einer Party war Imogene wiederholt ge-
    gen ihn gestoßen. Einmal hatte sie mit verschwommenem
    Blick seinen Daumen ergriffen und mit diesem reizvollen
    Sprung in der Stimme gefragt: «Was gefällt dir nicht an mir,
    Owen?»
    «Nichts», hatte er geantwortet. «Ich meine, da ist nichts,
    was mir nicht gefällt. Wie kommt Roscoe mit seiner neuen
    Schneeschleuder zurecht?»
    Trish Oglethorpe stellte sich dazu, drängte sich besitz-
    ergreifend zwischen sie, obwohl er nicht mit ihr geschlafen
    hatte und seine Visionen, sie für einen Dreier mit Vanes-
    sa anzuwerben, verebbt waren. Doch ein Nachbild seines
    Flirts und ein schwacher Widerhall seiner Masturbations-
    phantasien, die sich nachts quer durch die Stadt über alle
    schlafenden Fernsehantennen ausbreiteten, zog sie zu ihm
    hin und ließ sie wachsam an seiner Seite bleiben, als war-
    tete sie auf seinen nächsten Zug. Beide Frauen sahen ihn
    sozusagen mit gequälter Erwartung an. Er sagte: «Ich lasse

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    euch jetzt beide mal, dann könnt ihr über Tennis plaudern»,
    wandte sich ab und machte sich auf die Suche nach Phyl-
    lis, die in der Küche auf einem Barhocker aus Buchenholz
    hockte und sich mit Ed und Henry Slade unterhielt – wie
    in den alten Zeiten am MIT, wenn er sie in einem verräu-
    cherten chinesischen Restaurant fand, wo sie behaglich mit
    Jake Lowenthal und Bobby Sprock zusammensaß.

    Wenn Owen einen ernsthaften Annäherungsversuch bei
    Imogene machen wollte, musste er erst mit Vanessa Schluss
    machen. Aber würde er je wieder eine Frau wie sie finden,
    eine so freimütige Sex-Freundin, so frontal und unerschro-
    cken, mit so gleichmäßig mattfarbener Haut und einer Kli-
    toris, die wie ein Penis funktionierte und ihm den Angriff
    abnahm? Die gleiche Dreistigkeit und Energie machte sie
    in der Stadt allgegenwärtig: Sie war Mitvorsitzende, wie
    sie es nannten, des Fundraising-Komitees, das für einen
    Anbau – mehr Büroraum, weniger für Ärzte, sondern viel-
    mehr für die sich vermehrenden Verwalter und Buchhalter
    der Krankenversicherung – am United Falls Hospital sam-
    melte; das Krankenhaus lag in der Stadt, war aber auch für
    die primitive Ortschaft Lower Falls sowie für diejenigen
    Einwohner von Upper Falls zuständig, die nicht bis nach
    Hartford fahren wollten. Eigentlich lag allen daran, dass
    diese lokale Institution gedieh und erhalten blieb, obwohl
    Kleinstadt-Krankenhäuser aufgrund der Kosten der medi-
    zinischen Versorgung und der Wirtschaftlichkeit größerer
    Häuser immer weniger wurden – derselbe Wirtschaftstrend
    übrigens, der den Untergang von Kinos, selbständigen
    Banken und unabhängigen Bürobedarfsgeschäften, von
    Spielzeugläden und Buchhandlungen herbeiführte. Das
    Einkaufen hatte sich in die Bereiche zwischen den Städten

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    verlagert, in Einkaufszentren, die jeweils mehrere Farmen
    verschlangen. Selbst Woolworth, der mit goldenen Let-
    tern versehene Außenposten des Imperiums in der River
    Street, mit seinem bunten Warensortiment angeblich so
    beständig wie die Ford Motor Company und die Telekom-
    munikationsfirma AT&T, war auf deprimierende Weise
    heruntergekommen: In der Haustierabteilung gab es nur
    noch ein paar plappernde, demoralisierte Wellensittiche
    und Kanarienvögel, während es früher hier wie im Dschun-
    gel gezwitschert hatte und alles erfüllt gewesen war vom
    herben Geruch von Vogelsamen und Vogeldreck und vom
    Rascheln von Wüstenspringmäusen auf ihren quietschen-
    den Treträdern und in i e
    hr n t
    s echend stinkenden Nestern
    aus Sägespänen.
    Das Krankenhaus war – wie die noch nicht regional in-
    tegrierte Highschool von Middle Falls – für die Bewohner
    ein Hort der Erinnerungen. Das jüngste Kind der Macken-
    zies, die in sich gekehrte, empfindliche Eve, war dort ge-
    boren, und als Phyllis mit vierzig ihren Krebsschock hatte
    (eine gutartige Zyste, deren Entfernung kaum eine Narbe
    hinterließ) und Gregory sich mit vierzehn den Fußknöchel
    brach und Owen mit vierunddreißig fast einen Blinddarm-
    durchbruch hatte, da hatte

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