Landleben
ihn nicht beschämt und voran-
getrieben. Erschrecken über ihren eigenen Sündenfall hat-
te sie elektrisiert; das zweifelsfreie Verhalten, das sie sich
in Zeiten ihrer Tugendhaftigkeit erworben hatte, trieb sie
voran. Sie blickte nie zurück, und er folgte ihr matt.
Die Gespräche mit seinen Kindern, der Umzug in eine
Wohnung in den heruntergekommenen Reihenhäusern
am anderen Ufer, gegenüber der alten Fabrik, die Unter-
redung mit einem müden, neutralen Scheidungsanwalt in
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Hartford – all dies vollzog sich wie unter Wasser. Benom-
men bewegte er sich durch das Dickicht der Schmerzen an-
derer; er erkannte sich kaum wieder. In diesem dichteren
Element fühlte er sich seltsam leicht. Er hatte das Gefühl,
dass er mit dem Eintritt in dieses drastische Element – das
Verhängnis, das er mit dem leeren Grundstück neben sei-
nem ersten Zuhause verwechselte, wo seine Brille in ihrem
taufeuchten Etui wie durch ein Wunder wieder in seinen
Besitz gelangte und ihn überzeugte, dass sein Leben un-
ter einem glücklichen Stern stand – sein verspätetes Er-
wachsenenleben begonnen hatte. Phyllis zu verlassen, zu
einem Zeitpunkt, als sie beide Mitte vierzig waren, war die
erste erwachsene Handlung in seinem Leben. Erwachsen
zu sein bedeutete, ein Killer zu sein. Pazifisten und Nicht-
kämpfer machten i
s ch lediglich etwas vor und überließen
die schmutzige Arbeit anderen.
Vanessa, die ihm eines Mittags in der Stadt begegnete,
vor dem «Hässlichen Entlein», sagte nur ohne ein Lächeln:
«Gut für dich, Lieber», blieb aber nicht stehen. Alissa, die
mit der kleinen Nina im Schlepptau die Branch Street zur
Grundschule überquerte, sagte zu dem Kind: «Möchtest
du Mr. Mackenzie zeigen, wo dein Zahn ausgefallen ist?»
Karen Jazinski hatte in jenem Sommer einmal an Owens
Zelle bei E-O geklopft, aber da Julia bei ihm auf dem Sofa
war – mit ihrem entschieden brünetten Haar weniger wie
Manets Olympia, sondern mehr wie Goyas Nackte Maja – ,
konnte er nicht aufmachen, und Karen, die vielleicht bei-
der angehaltenen Atem drinnen spürte, klopfte nicht noch
einmal. Aus einem unerfindlichen Grund führte Trish
Oglethorpe die lokale Streitmacht der Entrüstung an und
ging im Supermarkt an Julia vorbei, als wäre sie ein wel-
ker Salatkopf. Roscoe und Imogene Bisbee brüskierten das
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neue Paar im Silver Spoon, einem überteuerten Restaurant
mit Kerzenlicht in Upper Falls, wo Owen und Julia sich
unter den gesichtslosen Siedlungsbewohnern vor dem Er-
kanntwerden sicher geglaubt hatten.
Dieses Interim der Trennung zog sich über ein Jahr hin,
und dann kam es noch schlimmer. Man möchte es gar nicht
wissen. Die Zeitungen und Nachrichtensendungen sind
voll von Familiendramen und Morden hinter Mauern. In
beiden zerstörten Ehen gab es kummervolle, Rückschau
haltende Unterredungen, nicht ohne hochgestimmte Mo-
mente trunkener Geständnisse und trockener Heiterkeit.
In einem späteren Stadium, als es mehr um Rechtsfragen
ging, gab es bittere Auseinandersetzungen über die Auf-
teilung von Besitz – besonders bitter bei den Mackenzies,
die unverhofft zu Wohlstand gekommen waren und ihn
schnell in schöne, künstlerische Dinge umgesetzt hatten.
Jeder Perserteppich, jedes abstrakte Gemälde, jedes Fünf-
zig-Dollar-Kunstbuch war gemeinsam ausgewählt oder, im
Falle der Bücher, mit liebevollen Widmungen versehen,
zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschenkt worden.
Eine Ausgabe von Finnegans Wake, die Phyllis Owen zu sei-
nem fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte – ein
großer Band mit geradem Rücken und einem Schutzum-
schlag, der vorn und hinten gleichermaßen die fünfzehn-
seitige Liste der Druckfehler zeigte, die Joyce dem Text
von 1939 beigefügt hatte –, löste einen besonders bitteren
Streit aus, obwohl beide nicht über die ersten fünf Seiten
hinausgekommen waren. Sie hatten geglaubt, es sei mathe-
matischer angelegt, da der Autor einer der wenigen war,
dessen Geist sich mit dem der großen Mathematiker mes-
sen konnte, aber der heilige Text war reine Musik, die Mu-
sik phonetisch falsch geschriebener Rede in einem breiten
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irischen Akzent, und ganz Europa blitzte in den Wortspie-
len auf. In der Zeit ihrer Verlobung und in ihrer Ehe hatte
dieses Buch ihnen als der Inbegriff der Kultur gegolten –
fanatisch gearbeitet, distanziert wie ein Monolith.
Bei den Larsons gab es das Problem des Pfarrhauses. Ju-
lia und die
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