Landleben
erregende Objekt,
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stopft es unter die Armbeuge seines vom Schlaf zer-
knautschten Pyjamas, streckt, in freundlichen Gedanken
an die Füße seiner Frau, seine nackten Füße nach ihren
aus und legt sie auf den Chippendalestuhl auf der ihm zu-
gewandten Seite des Couchtischs. Eine Vorfahrin von Julia
aus Wethersfield hat einst die leider stark verblasste Crew-
elstickerei des Polstersitzes angefertigt.
«Und nimm deine schmutzigen Füße von meinem an-
tiken Stuhl», sagt sie, in aufrichtiger Empörung, wie es
scheint, und dieselbe Empörung lässt sie mit ihrem leeren
Jo u
gh rtbecher vom Sofa hochschnellen und durch den Flur
zur Küche gehen.
Er trottet hinter ihr her, halbherzig protestierend: «Sie
sind sauber. Sie sind nackt.»
«Und warum», fragt sie mit mühsam beherrschter Stim-
me, ohne sich zu ihm umzudrehen, «hast du nie gelernt,
dir die Haare zu kämmen? Es war was anderes, als du noch
volles Haar hattest und es braun und weich war, da konnte
man es al
s süß d r
u chgehen lassen, aber jetzt ist es einfach
nur ein hässlicher kleiner weißer Mopp auf deinem Kopf.»
«Ich bin gerade erst aufgestanden», protestiert er, «und
war auf der Suche nach dir. Ich wollte mir nicht erst die
Haare kämmen.»
Als er klein war, in Willow, wurde sein Haar nur vor der
Sonntagsschule und nach dem Haareschneiden gekämmt,
und niemand hatte daran etwas auszusetzen. Oder hatte
seine Mutter etwas gesagt? Er versucht sich zu erinnern,
und eine schwache, kratzige Erinnerung kommt ihm, an ei-
nen Kamm, der über seine Kopfhaut harkt, vielleicht seine
Mutter, die sich ungehalten um seine Haare kümmert, be-
vor sie ihn mit der Horde Mädchen aus der Second Street
zur Schule schickt. Noch heute fürchtet er den Zorn in der
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Berührung seiner Mutter, obwohl sie seit über zehn Jahren
tot ist.
In der Küche dreht Julia das Fernsehgerät an, und ein
Wetter-Mann, jung, mit buschigem Schnurrbart und extrem
schlaksig – große Menschen sehen im Fernsehen nicht gut
aus –, rückt mit seinem weißen elektronischen Zeigestock
immer ein bisschen zu weit vor, sodass der Lichtfleck über
Ohio zittert und kritzelt, während der Mann beschreibt,
wie eine Hochdruckzone durch den Staat New York nach
Neuengland hinaufzieht.
«Warum siehst du dir ewig diesen Quatsch an?», fragt er
in vorsichtiger Geg w
en ehr. «Das Wetter kommt, einerlei,
was du weißt.»
«Still!», sagt sie in dem gleichen heftigen Ton, in dem
seine Mutter einst e
b fohlen hat: Fass
das nicht an! «Jetzt
habe ich das mit der Front verpasst!»
«Die Front kommt sowieso, wie es ihr passt, mach dir
darüber keine Sorgen. Selbst du kannst Fronten nicht be-
herrschen. Was steht in der Times?»
«Lies doch selbst.»
«Ich lese den Globe.»
«Sehr dumm von dir, Owen. Da steht doch nichts drin,
abgesehen von Vergewaltigungen in Medford und Morden
in Dorchester.»
«Naja, im Gegensatz zu der heiligen beschissenen Times
behauptet der Globe nicht, zu wissen, welche Nachrichten
es wert sind, gedruckt zu werden.» In seiner Erregung geht
er an den Brotkasten in der tiefen Schublade und zieht eine
Tüte Newman’s Own Traditional Thin Pretzels heraus,
die mehr nach Gebackenem riechen als die weniger mo-
ralischen Sorten, und beißt in eine hinein. Der erste Biss
ist immer der beste. Paul Newman, der mit seiner Tochter
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Nell auf der Zellophantüte posiert, hat auch weiße Haare.
Owen erinnert sich noch an ihn, wie er in Der Wildeste unter
Tausend war, so jugendlich und gefährlich, und halb wie im
Schlaf wirkte wie der verstorbene James Dean.
Mit einer Stimme, fast so, als wäre sie in höchster Not,
schreit Julia: «Iss über dem Spül becken! Du machst den
Fußboden schmutzig, und die
a
Putzfr uen waren gerade
erst da!»
Die Putzfrauen sind ein Paar frisch eingewanderte Bra-
silianerinnen, nicht Schwestern, aber identisch gebaut, mit
breiten, wabbelnden Hinterteilen. Manchmal bilden sie
ein Trio, die
te
Drit
schlanker, mit nussbrauner Haut und
riesigen Schokoladenaugen – und kein Wort Englisch.
«Du bist so ein Schlamper!» , ruft seine Frau aus. «Deine
Mutter hat dir aber auch gar nichts beigebracht!»
Owen würde Julia vielleicht widersprechen, wenn sie
bessere Laune hätte. Seine Mutter hatte ihm eine Menge
beigebracht, obwohl es jetzt, gegen Ende seines Lebens,
schwer ist, zu sagen, was. Ihre Weisheit, größtenteils ohne
Worte, war auf das Leben in Willow zugeschnitten
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