Landleben
Kleie-Getreideflocken-Frühstück,
mit der Hand voll Vitamintabletten, die zu schlucken sind,
der Zeitung, die zu lesen ist, mit ihren tödlichen Autoun-
fällen, ihren Wohnhausbränden in der Innenstadt Bostons,
ihren nicht enden wollenden Enthüllungen über sexuellen
Missbrauch, vorgebracht gegen Priester von inzwischen
erwachsenen, prozessfreudigen, nicht sehr gewinnenden
Opfern, einstigen Kindern, mit ihren weiteren Enthüllun-
gen von verzweigter Schikane in den obersten Etagen gro-
ßer Konzerne und Investmentfonds, ihren Nachrufen auf
verdienstvolle Unbekannte, mit ihren Berichten über den
bevorstehenden Krieg. Seine linke Hand wird häufig von
einem Kribbeln in der Handfläche heimgesucht, was auf
eine Abnutzung der Wirbelsäule oder auf einen drohenden
Herzinfarkt hinweist, und von arthritischen Schmerzen am
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Nagelbett eines der Finger und, was sich nicht so leicht
ignorieren lässt, in den Daumengelenken, Schmerzen, die
tief in der Anatomie seiner Hand verborgen sind. Diese
Schmerzen haben, so glaubt er, mit der Golfsaison zu tun:
Der wehtuende Finger ist der dritte, mit dem er all die
Jahre den Golfschläger umfasst hat, sehr fest, zu fest, und
die gleiche Grifftechnik hat irgendwie seinen Daumen in
Mitleidenschaft gezogen – zu viel Gewicht darauf gelegt
beim Backswing. Jahrzehntelang hat er versucht, sich von
Golfprofis zeigen zu lassen, was er falsch macht, doch alle
haben nach einem nur flüchtigen Blick gesagt, sein Griff
sehe gut aus, um alsdann die Stellung seiner Füße zu be-
mängeln, die Haltung seiner Schultern, seine übertriebene
Hüftdrehung, seine elende Neigung, sich von außen nach
innen zu drehen, seinen steifbeinigen und übertrieben auf-
rechten Stand und den damit einhergehenden Fehler, das
verteufelte «umgedrehte G». Aber in seinem Herzen weiß
er, dass der Daumen eigentlich nicht nach jeder Runde
wehtun sollte. Jetzt sind die Knochen abgenutzt, irrepara-
bel: Der Schaden und die Schmerzen werden ihn bis ans
Grab begleiten. Eine Woge der Liebe zu Julia durchströmt
ihn, ausgelöst von dem warmen Gefühl, das von ihr her-
rührt, auf dem Laken, unter der Decke. Sie ist bei ihm ge-
blieben, sie wird bei ihm bleiben, auch wenn er zu einem
erbärmli
,
chen übel riechenden, nicht funktionierenden
Krüppel wird.
Ohne sich die Zeit zu nehmen, zu urinieren oder sich
die Zähne zu putzen, macht Owen sich auf die Suche nach
ihr. Sie ist nicht oben im Fernsehzimmer und auch nicht
an ihrem Schreibtisch im Gästezimmer. Panik breitet sich
flatternd und flippend in seinem Magen aus. Auch in der
Küche ist sie nicht, in die er über die hintere Treppe ge-
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langt, leise, barfuß, der neue Teppich schmiegt sich weich
und federnd an seine Sohlen. Der Fernsehapparat, in dem
gewöhnlich der Wetter-Kanal, ihr Lieblingsprogramm,
funkelt, ist leer, ein todlangweiliges Grüngrau. Der Ruf
«Julia!» steigt in seiner Kehle auf, als ein Rascheln von
Papier offenbart, dass sie unten ist, in der Bibliothek. Sie
hockt auf dem roten Sofa, isst Joghurt aus dem Plastikbe-
cher und liest die New York Times. Ihre blauen Flip-Flops
ruhen auf der Kante des Couchtischs, und die Unterseiten
ihrer Schenkel werden von ihrem kurzen Nachthemd und
dem offenen Bademantel freigegeben. Er lässt sich in den
Sessel ihr gegenüber fallen, mit der Erleichterung eines
Reisenden, der den Weg aus der Wüste heraus gefunden
hat. Das panische Kitzeln in seinem Magen lässt nach. Aus
seinem Blickwinkel sehen die Zehen in ihren Flip-Flops
wie zwei Ketten rosiger Kreise aus. Die Muskeln in ihren
auf der Tretmühle gestählten Beinen spielen umeinander
wie geschmeidige Delphine. Er staunt, wie stark ihn ihre
Schönheit immer noch trifft, als sie unter ihren geschwun-
genen schwarzen Brauen den Blick ihrer weit auseinander
stehenden aquamarinblauen Augen auf ihn richtet, die
Lippen leicht vom Joghurt glänzend. Ihre Lippen sehen
niemals taub oder erstarrt aus, sondern immer entschlos-
sen, fe t, a
s
n den Rändern markant, auch ohne Lippenstift.
«Nimm diese absurde Mütze ab», sagt sie.
Seit sein Haar schütter wird, ist es ihm zur Gewohnheit
geworden, im Bett eine Wollmütze zu tragen, bis weit in
den Frühling hinein. Seine Mutter hatte das im hohen Al-
tet auch gemacht. Selbst an heißen Sommerabenden ver-
misst er diese Umhüllung seines Schädels und greift darauf
zu
rück, wenn
ht
er schlec schläft.
Gehorsam entfernt er das Anstoß
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