Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
wolltest etwas Herbes.“
„Lenk nicht ab!“, überging ich die Spitzfindigkeit. „Du wolltest erzählen, erinnerst du dich?“
Salandar räusperte sich. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Sprache zu finden. Offenbar hatte man ihn einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen ... na ja, so gründlich konnte sie auch wieder nicht gewesen sein.
So erzählte er eine Geschichte, düster und unruhig wie die Nacht, die draußen tobte.
Ein Mann kam darin vor, der wie panisch seinem Leben entfloh. Einem Leben ausgerechnet am Bayrischen Hof, an dem er als Sohn eines Ministers von den Wundern der Magie träumte.
Er lernte Zaubertricks, verblüffte erst die engsten Kreise und als Jüngling schließlich die Massen. Er ließ Dinge verschwinden und wieder auftauchen, verknotete und entfesselte Seile und Ringe, weissagte, spielte Kartentricks und vieles mehr. An Geld hatte es der Familie nie gemangelt, und so ging der betuchte junge Mann zum Studium der sieben Künste nach Berlin, um in den Augen seines Vaters ein würdiger Nachfolger auf dessen Sitz zu werden.
Doch sein Vater hatte übersehen, was die Magie seinem Sohn bedeutete. Denn Magie war für ihn mehr als nur ein Taschenspielertrick. Es war die Atmosphäre der Unglaublichkeit, der Duft des Grenzenlosen, der für sich selbst genommen bereits so etwas wie Magie war.
Wie ein Säufer, den es schon am Morgen nach dem nächsten Schluck dürstete, so dürstete es den jungen Mann nach Magie. Jeden Morgen, jede Stunde, jede Sekunde seines Daseins.
Schließlich erfuhr er vom Gerede um die Circuli, und er ging ihm mit aller Versessenheit und mit aller Leidenschaft, die einem ein junger, träumerischer Geist bieten konnte, auf den Grund.
Als er am Grund angelangt war, starb der Sohn des Ministers. Die Spuren seines Daseins verwehten wie ein Echo in den Schluchten des Wahnsinns. Ungeachtet aller Tränen, die seinetwegen vergossen worden sein mochten, gebar der Tod des Ministersohns einen neuen Mann.
Salandar.
So vermochte er, sich der wahren Magie hinzugeben und Wissen darüber zu sammeln und zu hüten.
Doch seine Kollegen waren anders. Sie wollten mehr als nur den einen magischen Moment kosten. Sie instrumentalisierten ihr Können für ihre eigenen Zwecke und Bedürfnisse. Egoismus und der Wunsch nach Selbstbereicherung waren ihr Antrieb.
Salandar erkannte, dass er in die falsche Richtung gegangen war. Er hatte sein Leben aufgegeben für eine Illusion und für etwas, das er in dieser Form nicht verantworten konnte. Denn er strebte nicht nach weltlicher Macht.
So kam der Tag, an dem Salandar dem Berliner Zirkel den Rücken kehrte und nie wiederkam.
Doch was konnte jemand wie der junge Salandar in einer Welt anfangen, die seiner nicht bedurfte? Er musste eine Möglichkeit finden, mit seiner Kunst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und wie das Schicksal von Zeit zu Zeit so spielt, trafen seine Wege die meinigen nachts in einer spukenden Ruine. Wir wollten beide dasselbe: ein Leben, ein Vergessen, eine Sorglosigkeit.
Ab hier kannte ich die Geschichte.
Ich erinnerte mich auch, wie wir Jahre später Hagen begegneten. Ebenfalls des Nachts.
Zudem drang in meinen Verstand das Bild eines unfertigen Schriftstücks, das mir bei dem beklagenswerten Nikolaus Bender ins Auge gefallen war, den ich nach der Begegnung mit Marius aufgesucht hatte.
Lang, lang lebe die Nacht , hatte es begonnen.
Mit den Gedanken abseits der Grafschaft Eulenbach und ihrer Geheimnisse schien mir in diesem Augenblick einiges deutlicher als zuvor.
4.
Wie verlassen ein Haus wirklich sein konnte, merkte man erst, wenn man durch die herumliegenden Erinnerungen einer verlorenen Welt stapfte.
Die Leute hatten in ihrer Panik ein Chaos aus umgeworfenen Stühlen, heruntergerissenen Gardinen und auf dem Fußboden verteiltem Essen hinterlassen. Niemand hatte die Villa der Ehlerts seit dem gestrigen Tag betreten. Zu schwer lastete das Außergewöhnliche auf den unbedarften Seelen der hohen Bewohner des Städtchens Leyen, und niemand, wirklich niemand wollte dem Spuk begegnen, der Mechthild Ehlert getötet hatte. Der Ort stand unter Schock.
Missmutig schob Hagen ein teures Weinglas mit dem Fuß zur Seite, während Salandar und ich in alle Ecken des verwaisten Gesellschaftszimmers spähten.
„Denkst du, was ich denke?“, fragte mein Freund, der ehemalige Magier, während er die Finger über die zerstörten Saiten des Cembalos gleiten ließ.
Ich hielt inne und sah mich noch einmal um, dann nickte ich.
„Die
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