Lange Finger - flinke Beine
Ich habe ihn vermehrt, Ascot. Am Tage deiner Entlassung hätte ich mich bei dir gemeldet... Woher sollte ich wissen, daß du ein Jahr früher herauskommst! Hörst du, Ascot, ich konnte das doch nicht wissen.«
Murphy schwieg. Dann langte er mit der linken Hand nach oben und nahm die Sonnenbrille ab. Fast pedantisch legte er sorgfältig die beiden Bügel um und ließ sie dann in einer unsichtbaren Tasche des Capes verschwinden.
Akeridge streckte ihm hilflos die Hände entgegen. »Warum sagst du nichts?«
»Ich genieße deine Furcht, John!«
»Wenn du willst, gebe ich dir auch meinen Anteil...« Ascot Murphy machte eine herrische Bewegung mit der Waffe. Akeridge verstummte augenblicklich.
»Sollte einem von uns etwas zustoßen bei dem Überfall, bemüht sich der andere über Mittelsmänner um einen guten Anwalt.«
Der Münzhändler nickte. Seine Haut wirkte plötzlich nicht mehr blaß, sondern grau.
Murphy fuhr fort: »Nun ist zwei Männern etwas zugestoßen. Einem Diamantenhändler namens Ashford, dem du mit einem völlig unnötigen Schuß das Augenlicht weggeschossen hast, und mir, der dafür neun Jahre büßte. Wo warst du, John Akeridge, während ich auf meinen Prozeß wartete? Wo der Anwalt, wo die Hilfe? Warum hast du dich nicht um meinen kleinen Stiefbruder gekümmert? Auch das gehörte zu unseren Abmachungen für den Fall X!«
»Ich war krank, Ascot«, versicherte Akeridge atemlos. »Schwer krank. Bis Juni lag ich mit einer gefährlichen Lungenentzündung im Bett... Ich war unfähig, dir zu helfen. Als ich wieder gehen konnte, war es zu spät.«
Ein kaltes Lächeln huschte um Ascots Mund. »Kleine, miese Ratte. Du hast dich bereits einen Tag nach dem Überfall selbst beerdigt — in der Themse. Du siehst, es ist zwecklos, mir Märchen erzählen zu wollen. Schließen wir das Kapitel Vorgeschichte ab, kommen wir zur Gegenwart...«
John Akeridge taumelte. Er mußte sich an einer der Verstrebungen abstützen.
»Was hast du vor?«
»Warum wohl habe ich dem Gericht deinen Namen verschwiegen? Hast du nie über diese Frage nachgedacht?« Akeridge griff sich zum Hals. »Mein Gott«, stöhnte er, »mein Gott, Ascot... Ich... ich habe Familie, Kinder...«
Ascot Murphy winkte ab. »Zuerst aus Loyalität. Ich wartete auf ein Zeichen von dir. Als es mir endlich bewußt wurde, daß dieses Zeichen nie eintreffen würde, schwieg ich aus egoistischen Gründen. Ja, John Akeridge, aus egoistischen Gründen, du hast dich nicht verhört. Ich wollte Rache nehmen. Grausame Rache an dir, John!«
»Du willst mich also töten!« John Akeridge sprach aus, was er längst wußte.
»Vor einigen Jahren hätte ich diese Frage rückhaltlos und ohne nachzudenken mit >Ja< beantwortet. Doch im Laufe der Zeit haben sich meine Vorstellungen von deinem eventuellen Ende kultiviert, verfeinert. Ich habe wohl doch nicht das Zeug zum eiskalten Mörder in mir. Du sollst noch eine Chance haben, John Akeridge!«
»Wieviel, Ascot?« Akeridges Stimme überschlug sich. Die Augen in seinem jetzt schweißüberströmten Gesicht flak-kerten. »Sag, wieviel du willst. Ich zahle dir jeden Preis! Oder willst du mein gleichberechtigter Teilhaber werden? Ich...«
»Schweig!« Es klang wie ein Schuß, und Akeridge zuckte zusammen, als sei er getroffen. »Deine Chance hat nichts mit Geld zu tun!«
»Nichts... nichts mit Geld?«
»Daß Ashford damals mich und nicht dich ins Bein traf, war Zufall — oder Schicksal. Ich weiß nicht, ob du dir mit deiner neuen Identität auch Frömmigkeit zugelegt hast. Wenn ja, fragen wir: War es göttliche Fügung, daß der Initiator des Überfalls gesund und mit der Beute entkam und der Verführte den Häschern in die Hände fiel? Deine Chance hängt damit zusammen. Ich will wissen, wen sich das Schicksal heute aussucht.«
Akeridge machte mit weitaufgerissenen Augen einen Schritt vorwärts, doch sofort zuckte die Waffe hoch. »Was soll das heißen... Himmel, Ascot, bist du krank? Verrückt? Was sollen diese Andeutungen?«
Wieder schwieg Ascot Murphy eine Weile. Weidete sich an der kreatürlichen Furcht seines Gegenübers, wenn auch nicht mehr mit der gleichen Genugtuung wie vorher. Dann erklärte er mit fast freundlicher Stimme:
»Wir zwei machen einen Spaziergang. Zu dem Blockhaus. Es ist groß genug für unseren Zweck. Und die dicken Balken werden den Lärm auffangen. Darin wird sich das Schicksal für den einen oder anderen von uns entscheiden. Du siehst, ich habe meinen Haß unter Kontrolle...«
»Ich verstehe
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