Lange Zähne
unmenschlich halten, dachte Jody. Dafür ist es jetzt zu spät.
»Vielleicht hast du recht,
Mutter«, sagte sie. »Wenn ich nach Stanford gegangen wäre, hätte ich vielleicht
verstanden, warum ich nicht mit einem angeborenen Wissen über Kochen und
Saubermachen und Kindererziehung und das Vereinbaren von Beruf und Familie zur
Welt gekommen bin. Ich habe mich schon immer gefragt, ob es ein Mangel an
Bildung oder ein genetischer Defekt ist.«
Mutter Stroud war ungerührt. »Über
die Erbanlagen auf der Seite deines Vaters kann ich nichts sagen, Liebes.«
Tommy war dankbar, daß Mutter
Strouds Aufmerksamkeit sich von ihm abgewandt hatte, doch er konnte sehen, wie
sich der Blick in Jodys Augen veränderte, von verletzt zu wütend wechselte. Er
wollte ihr zu Hilfe eilen. Er wollte Frieden schließen. Er wollte sich in einer
Ecke verstecken. Er wollte in die Bresche springen und dieser Frau zeigen, was
eine Harke ist. Er wog seine höfliche Erziehung gegen die Anarchisten, Rebellen
und Bilderstürmer ab, die seine Vorbilder waren. Er war Schriftsteller, und
seine Waffen waren Worte. Sie würde keine Chance gegen ihn haben. Er würde sie
vernichten.
Und das hätte er auch getan. Er
holte gerade tief Luft, um sich für die erste verbale Salve zu wappnen, als er
ein Stück Jeansstoff unter dem Futonrahmen verschwinden sah: sein abgetrennter
Hemdsärmel. Ihm stockte der Atem ; er sah zu Jody. Jody lächelte und
schwieg.
»Dein Vater war mit einem
Sportstipendium auf Stanford, mußt du wissen«, sagte Mutter Stroud. »Sonst
hätten sie ihn nie angenommen.«
»Da hast du sicher recht, Mutter«,
erwiderte Jody. Sie lächelte höflich, während sie nicht ihrer Mutter lauschte,
sondern dem melodischen Kratzen von Schildkrötenkrallen auf dem Teppich. Als
sie sich auf das Geräusch konzentrierte, konnte sie das langsame, kalte
Schlagen von Scotts Herz hören.
Mutter Stroud nippte an ihrem
Kaffee und blickte über den Tassenrand. Tommy wartete. »Und, wirst du lange in
der Stadt bleiben?« fragte Jody.
»Ich bin nur zum Einkaufen
hergekommen. Ich sponsere eine Wohltätigkeitsveranstaltung für die Monterey Symphony,
und ich brauchte ein neues Abendkleid. Natürlich hätte ich auch etwas in Carmel
gefunden, aber das hätten alle schon mal gesehen. Das ist der Fluch, wenn man
dort lebt, wo jeder jeden kennt.«
Jody nickte, als würde sie das nur
zu gut verstehen. Es gab nichts, was sie mit dieser Frau verband, jetzt nicht
mehr. Frances Evelyn Stroud war eine Fremde, eine unangenehme Fremde. Jody
fühlte sich enger mit der Schildkröte unter dem Futon verbunden.
Unter dem Futon erspähte Scott ein
Schuppenmuster auf Mutter Strouds Schuhen. Er hatte 'noch nie italienische
Pumps aus Kroko-Imitat gesehen, aber er kannte Schuppen. Wenn man friedlich im
Schlamm am Grund eines Teiches vergraben lag und Schuppen sah, bedeutete das
Futter. Und dann biß man zu.
Frances Stroud stieß einen
schrillen Schrei aus, sprang auf und zog mit einem Ruck ihren rechen Fuß aus
ihrem Schuh, während sie nach vorn in den Korbcouchtisch fiel. Jody fing ihre
Mutter an den Schultern auf und stellte sie auf die Füße. Frances stieß Jody
weg und wich quer durch das Zimmer zurück, während sie sah, wie eine
Schnappschildkröte unter dem Futon hervorkam und fröhlich an ihrem Pump kaute.
»Was ist das? Was ist das für ein
Vieh? Das Vieh frißt meinen Schuh! Haltet es auf! Bringt es um!«
Tommy sprang mit einem Satz über
den Futon und warf sich auf die Schildkröte. Er bekam gerade noch den Absatz
des Schuhs zu fassen, bevor dieser verschwand. Scott grub seine Krallen in den
Teppich und wich nach hinten zurück. Tommy tauchte mit dem Absatz in der Hand
wieder hinter dem Futon auf.
»Ich habe einen Teil gerettet.«
Jody ging zu ihrer Mutter. »Ich
wollte schon den Kammerjäger rufen, Mutter. Wenn ich früher gewußt hätte …«
Mutter Stroud atmete in empörten
Japsern. »Wie kannst du nur so leben?«
Tommy hielt ihr den Absatz hin.
»Den will ich nicht. Rufen Sie mir
ein Taxi.«
Tommy überlegte einen Moment, ob
er die Gelegenheit nutzen sollte, dann ließ er sie jedoch verstreichen und ging
zum Telefon.
»Du kannst nicht ohne Schuhe
rausgehen, Mutter. Ich hole dir etwas, was du überziehen kannst.« Jody ging ins
Schlafzimmer und kam mit ihrem ausgelatschtesten Paar Turnschuhe zurück. »Hier,
Mutter, die werden dich zurück zum Hotel bringen.«
Voller Angst, sich irgendwo
hinzusetzen, lehnte Mutter Stroud sich gegen die Tür und stieg
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