Langenscheidts Handbuch zum Glück (German Edition)
und Herbst 2010 präsentierte es sich von einer ganz anderen Seite. Denn es setzte sich das scheinbar unmögliche Ziel, die Kumpel herauszuholen. Die ganze Welt fieberte mit, als das Unterfangen Gestalt annahm. Und unten bei den Minenarbeitern wie oben bei ihren Familien ging das Leben so lange irgendwie weiter. Einer machte einen Heiratsantrag nach oben; einer wurde aus der Entfernung Vater und änderte den Vornamen seiner Tochter in Esperanza, also Hoffnung; und bei einem kündigten sich Probleme an, da Ehefrau und Geliebte sich nicht einigen konnten, wer ihn bei einer möglichen Rettung oben empfangen dürfe.
Das Militär gab Millionen für die Rettung der Dreiunddreißig aus. Und tatsächlich: Am 13. Oktober, neunundsechzig Tage nach der Katastrophe, fuhr die Rettungskapsel Phoenix passgenau durch ein enges Bohrloch und holte einen nach dem anderen unversehrt an die frische Luft und ans Tageslicht zurück. Die Rettungsaktion dauerte zweiundzwanzig Stunden und neununddreißig Minuten.
Eine schönere Demonstration der Macht und des Glanzes von Zielsetzung lässt sich kaum finden. Chile, gebeutelt von Militärdiktatur, Wirtschaftsproblemen und Erdbeben, kehrte fulminant in das positive Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zurück. Wer hätte das für möglich gehalten?
An etwas glauben und alles Erdenkliche tun, um es zu erreichen – was hat das für eine Kraft! Nie, nie werde ich die Gesichter der Bergleute vergessen, als sie – jeder eine ganz eigene Persönlichkeit – der Kapsel entstiegen. Ich klebte die Stunden am Bildschirm und sah die stille Freude des Introvertierten ebenso wie den extrovertierten Sportler, der kraftvoll und euphorisch einen Fußball wegschoss.
Wir leben im Jetzt und sollten das tun. Aber tritt nicht das Ziel hinzu, etwas in der Zukunft erreichen zu wollen, wird die Sinnfrage sich immer wieder wie eine Wolke vor den Gegenwartsgenuss schieben. So richtig das Jetzt genießen können die meisten von uns erst, wenn sie es sich vor oder nach der Arbeit am Erreichen persönlicher Ziele gönnen. Glück oszilliert zwischen beiden Polen und wirkt einbeinig, vernachlässigen wir einen von beiden.
Ohne Ziele wirkt Leben wie eine Jeepfahrt über strukturlose Steppe. Es fehlt ihm jede Richtung, jeder Sinn. Gewiss, ich kann in totaler Freiheit überallhin rasen, aber warum? Mit einem Ziel im Kopf kann ich auch jeden Kilometer genießen, bin aber enttäuscht, wenn ich nicht vorankomme, und glücklich, wenn alles gut läuft. Ich bekomme einen Maßstab für mein Handeln, für meinen Erfolg oder Misserfolg.
Wer ist der beliebteste Mann der Welt? Der Dalai Lama. Und was macht ihn wohl dazu – neben seiner Ausstrahlung von Weisheit, Güte, Würde, Bedürfnislosigkeit und Menschenliebe? Ich glaube, weil er zweierlei verbindet: Er hat reales Leid erfahren, als er 1959 aus seiner geliebten Heimat Tibet vertrieben wurde und sich im hässlichen Dharamsala in Nordindien ansiedelte. Und er hat ein Ziel vor Augen, das er seitdem mit seiner ganzen Kraft verfolgt: die Autonomie Tibets. Ob er selbst noch daran glaubt, diese je zu erreichen, wage ich zu bezweifeln. Aber er kämpft. Und gibt nicht auf. Das macht ihn beeindruckend, authentisch und sympathisch. Glück bedeutet nicht, einfach hinzunehmen, was ist, und sich irgendwie damit zu arrangieren. Es bedeutet auch nicht Blauäugigkeit. Oft müssen wir kämpfen, um glücklich zu sein, und erst der Kampf macht uns zu Menschen und unser Leben zu einem würdigen. Ob wir das Ziel erreichen, ist manchmal fast nebensächlich. Nur verraten darf man es nicht. Mancher, der ein ehrgeiziges Ziel nicht erreicht, ist glücklicher und auch für andere beglückender als jener, der beim ersten Gegenwind aufgibt und vergisst, wo er eigentlich hinwollte.
John F. Kennedy, trotz mancher Schwäche einer der faszinierendsten Politiker, die es je gab, setzte sich in seiner so jäh beendeten Amtszeit als US-Präsident unglaubliche Ziele – von der sozialen Gerechtigkeit über die Gleichbehandlung aller Menschen bis zum ersten Menschen auf dem Mond. Erreicht hat er sie nicht alle, aber die Welt hat er verändert. Glück ist auf der einen Seite Hingabe an die Gegenwart mit all unseren Sinnen, auf der anderen Seite aber auch Kampfeswille und Leidenschaft für Gerechtigkeit und Freiheit. Nur diese lassen die Großen unter uns glücklich werden und ermöglichen den vielen von uns ein Leben in Glück und Würde.
Wer keine Ziele hat, kann sich nicht darüber freuen, welche zu erreichen.
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