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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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sah er sie an.
    »Was, nein?«
    »Geh nicht… Jedenfalls nicht gleich.«
    Offenbar ging es ihr doch nicht so gut.
    »Kannst du … noch ein wenig bleiben, nur bis ich eingeschlafen bin?«

    »Du brauchst keine Angst zu haben, Marion. Aber ich kann im Korridor bleiben, wenn dich das beruhigt.«
    Ihm war klar, dass er eine weit größere Gefahr für sie darstellte, als es die Horde von Betrunkenen dort unten war. Ganz offensichtlich war sie sich der Wirkung, die sie auf ihn ausübte, nicht bewusst; vor allem nicht in diesem Moment. Ihre feuchten Locken klebten an ihren von den Schatten modellierten Wangen; und ihre hellen, feuchten Augen schauten ihn an und bezauberten ihn. Er holte tief Luft. Nur ein paar Schritte und etwas dünner Stoff trennten ihn von ihrer weißen Haut.
    »Du brauchst nur den Riegel wieder gut zuzuschieben …«
    »Ich selbst bin es, vor der ich mich fürchte«, erklärte sie abrupt. Gedankenverloren sah sie zu der glitzernden Wasserlache, die unter dem Fenster stand.
    »Du selbst? Das verstehe ich nicht.«
    »Ich habe …«
    Sie verstummte und biss sich auf die Lippen.
    »Ich habe Visionen.«
    »Du meinst, dass du Träume hast, Alpträume?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Visionen«, wiederholte sie, »an dà-shealladh , das zweite Gesicht.«
    Duncan musterte sie verdutzt.
    »Du besitzt die Gabe?«
    »Ja.«
    »Das sind wahrscheinlich nur schlimme Träume, Marion.«
    Sie öffnete den Mund ein wenig und schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein, Duncan. Diese Bilder kommen nicht immer, wenn ich schlafe. Es ist, als geriete ich in einen Trancezustand; dann nehme ich meine Umgebung nicht mehr wahr. Das, was sich vor meinen Augen abspielt, nimmt mich vollständig gefangen. Die Bilder … Sie kommen mir so wirklich vor, dass ich den Eindruck habe, sie berühren zu können, indem ich nur den Arm ausstrecke …«
    Sie schluchzte erstickt auf und schlug die Hände vors Gesicht. Er sah sie sprachlos an und wusste nicht recht, was er tun oder
sagen sollte. Er wusste von der Gabe des zweiten Gesichts, aber er war noch nie jemandem begegnet, der sie besaß. Jedenfalls nicht bis heute. Wie konnte er Worte finden, um sie zu beruhigen? Sie schien ehrlich verängstigt zu sein.
    Behutsam trat er zu ihr und setzte sich dann auf den Rand des Bettes, das unter seinem Gewicht fürchterlich knarrte. Er glaubte schon, das Möbel würde zusammenbrechen, doch es hielt.
    »Willst du mir davon erzählen? Vielleicht würde dich das ja trösten.«
    Sie schniefte und zuckte matt die Achseln. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, lief an der Rundung ihrer Wange entlang und verhielt an ihrem Kinn. Duncan betrachtete die kleine, schimmernde Spur, welche die Träne, die jetzt gleich ins Leere tropfen würde, zurückgelassen hatte. Er nahm sie mit der Fingerspitze auf und wischte sie an seinem Kilt ab.
    »Ich weiß nicht, es ist zu schrecklich …«
    »Geschieht das oft?«
    »Nein, das letzte Mal ist schon mehrere Jahre her. Das war kurz vor dem Tod meiner Mutter.«
    Seufzend schloss sie die Augen und sprach dann weiter.
    »Ich habe meiner Mutter beim Sticken zugeschaut, und plötzlich … sah ich, wie sich so etwas wie ein Schleier über sie senkte, oder wie ein Leichentuch. Ich verstand nicht, was mit mir geschah. In meinen Ohren summte es. Es hörte sich – ich weiß nicht – wie Stimmen an. Doch ich vermochte die Worte nicht zu unterscheiden, und ich konnte nicht mehr sprechen. Ich war nicht mehr Herrin meiner Sinne.«
    »Aber woher weißt du, dass das eine Vision war, die Gabe?«
    »Man hat es mir später erklärt, als ich endlich den Mut aufbrachte, darüber zu sprechen. Damals sagte ich mir, dass man mich wahrscheinlich für verrückt halten würde. Diesen Schleier habe ich mehrmals wahrgenommen, wenn ich meine Mutter ansah. Nach einiger Zeit mochte ich sie einfach nicht mehr anschauen, und ich habe mich versteckt, um sie nicht mehr sehen zu müssen. In der letzten Vision hatte der Schleier sie fast vollständig bedeckt. Dieser Zustand hielt nie länger als ein paar Minuten an, doch ich war danach stets noch tagelang aufgewühlt.
Und dann, eines Nachts, sah ich … ein kleines Boot, das auf spiegelglattem Wasser dahintrieb. Es war leer … Einige Tage später fiel meine Mutter bei einer Ausfahrt in den Loch Tay und ertrank. Ihr Boot war gekentert.«
    Sie unterdrückte ein Schluchzen. Duncan nahm ihre Hand, die krampfartig den Stoff ihres Unterrocks knüllte, und hielt sie ein wenig ratlos fest. Ihre Finger waren

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