Lass den Teufel tanzen
ihr geblieben war, nach Angelo fragte, darum bat, den Kleinen in den Arm nehmen zu können, ihn wenigstens streicheln zu dürfen. Und Nunzio, der nur erwiderte: »Vergiss es!«, das Kind mitnahm und ging.
Da waren ihr fast die Sinne geschwunden, so groß waren der Blutverlust und ihre Verzweiflung.
Nun mag man auch vom Leben verdorben sein, man mag enttäuscht, gebrochen, betrunken und unsicher sein, ob die Welt denn wirklich nur jenes Karussell in der Ferne ist, wie es bis zu diesem Moment schien, oder ob sie anders ist, ganz anders oder jedenfalls ziemlich verschieden von dem, was man sich immer vorgestellt hat. Aber bestimmte Dinge nicht! Bestimmte Dinge sind unverrückbar ! Hier kann man sich einfach nicht täuschen, auch wenn man eine müffelnde Alte ist, die ein wenig aus dem Leim gegangen ist, der es das Hirn zerfrisst und die nie jemand gerngehabt hat … Und diese Dinge, die verändern dich! Und wie sie dich verändern! Aber es gibt auch Ereignisse auf der sicheren Seite der Welt, und was die betrifft, kann man sich gewiss sein und in der Nacht ruhig schlafen. Und deshalb konnte auch der magere und doch muskulöse Junge mit dem spitzen Gesicht, das ein wenig an einen kleinen Wolf erinnerte, der, wie aus dem Ei gepellt, vor dem Zaun zum Hof stand, an der Hand eines Mädchens, das kaum älter und größer war als er, niemand anderes sein als Severino.
Bis dahin hatte sie in all den Jahren nur ein einziges Foto von ihm ergattern können, das im Garten des Klosters von San Giovanni in Neapel aufgenommen worden war. Auf dem Bild sah man ihn, noch ganz klein, in kurzen Hosen und einem weißen Trägerhemd, neben einem Strauch wilder Erdbeeren stehen, Früchten, von denen er einige in der Hand hielt und dem Fotografen zeigte. Auf dem Foto war ihr Severino älter vorgekommen als die acht, neun Jahre, die er zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, gewesen sein musste. Und das lag an dem Ausdruck in seinen Augen, als wollte er sich für das süße Beutegut entschuldigen, das er da in der Hand hielt, als hätte er gewusst, dass die Erdbeeren nie und nimmer für ihn bestimmt gewesen waren. So jedenfalls mutmaßte die Sapúta in all den langen Stunden, die sie über dem Foto saß, wäre da nicht der unerwartete Besuch des Fotografen gewesen, der die Nonnen dazu gezwungen hatte, sich liebevoller und nachsichtiger zu geben und dem Jungen zu gestatten, sich den strengstens verbotenen Früchten nicht nur zu nähern, sondern sogar einige von ihnen zu pflücken. Dieses Schwarz-Weiß-Foto war das einzige Bild und überhaupt die einzige Nachricht gewesen, die die Sapúta in all den Jahren von ihrem Sohn erhalten hatte. Zusammen mit einigen wenigen anderen Informationen. Und doch hatte sie jetzt das Gefühl, sich einfach nicht irren zu können. Der knochige Junge da, der sie von der anderen Seite des kleinen Hofes anblickte, war ihr Sohn. Und das Mädchen, das ihn an der Hand hielt, war Archina Solimene.
Sie wusste von einer gewissen Schwester Addolorata, der Schwägerin von Nunzio Solimene, die es mit der Erziehung des Kindes sehr ernst genommen hatte. Natürlich war es der
Sapúta angesichts dessen, was geschehen war, nie gelungen, Wohlwollen für diesen Nunzio Solimene aufzubringen. Ihrer Vorstellung nach war er es, der immer alles organisiert hatte, auch die Fahrt des Kindes nach Neapel. Ja, ganz gewiss war er es gewesen, der Angelo dazu geraten hatte, Severino bei den Nonnen unterzubringen. So weit von der Mutter entfernt wie nur möglich.
Vielleicht hatte ja Nunzios Tochter, genau die, die sie jetzt von der anderen Seite des Hofes anschaute und ihren Sohn an der Hand hielt, ihm ein wenig Sympathie entgegengebracht, so hässlich und ausgezehrt sie auch sein mochte und so schmutzig, wie sie im Dorf umherging, seit sie acht oder neun Jahre alt war. Immer in demselben blauen Kittel und mit dem seltsamen Stoffbeutel am Gürtel.
Sie wusste, dass dieses Mädchen praktisch mit ihrem Sohn aufgewachsen war, so lange, wie Severino in Mangiamuso lebte. Aus diesem Grund, und obwohl sie nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte, fühlte sie sich dem Kind irgendwie verbunden. Die Tatsache, dass Archina Nunzios Tochter war, rührte ihr alkoholgetränktes Herz zu tiefstem Mitgefühl, denn das Mädchen war ihr immer wie ein Häuflein Schmerz und Einsamkeit vorgekommen. Vor einiger Zeit hatte das ganze Dorf über sie gesprochen. Es hieß, sie sei von der Tarantel gebissen worden, die Musikanten seien zu ihr nach Hause gekommen und sie
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