Lass sie bluten
wie Viktors Michelinjacke.
Mama plapperte geradewegs drauflos: welchen Weg sie am besten nehmen sollten, wann sie sich morgen wiedersehen würden, wie nett es doch war, Viktor kennenzulernen.
Papa stand schweigend da. Beobachtete das Geschehen. Wartete.
Viktor öffnete die Tür. Kalte Luft strömte herein.
Auf der Straße rollte in langsamem Tempo ein Wagen vorbei; vielleicht war es derselbe grüne Volvo, den sie schon zuvor gesehen hatte.
Sie machten einen Schritt nach draußen. Natalie stand mit der Seite zum Flur gewandt da. Eine Hälfte des Körpers im heimeligen Licht, die andere draußen. Betrachtete Papa aus dem Augenwinkel. Drehte sich um. Sah ihn direkt von vorne an.
Mama sagte: »Wir sehen uns morgen.«
Natalie antwortete. »Ich ruf an, Küsschen, hej.«
Radovan machte einen Schritt vor. Er beugte sich zur Tür hinaus. Sein Oberkörper in der Kälte. Eine mächtige Atemwolke drang aus seinem Mund.
»Viktor.«
Viktor wandte sich zu ihm um.
Papa sagte: »Fahr vorsichtig.«
Natalie musste innerlich lächeln. Sie gingen zu Viktors Wagen.
Auf der Straße war es still.
4
Jorge setzte sich in einen Sessel. Checkte den Laden – sein eigenes Lokal. Sein Café –
seins
.
Er: ’n Typ, der ’n Lokal betrieb.
Er: ’n Typ, dem etwas
gehörte
.
Das war immer noch ein merkwürdiges Gefühl.
Man musste es sich mal auf der Zunge zergehen lassen. J-Boy: Chillentunas Ghettolatino number one, der Exkokskönig mit einem gewissen Ruf – saß hier mit ’nem ganz gewöhnlichen Café. Erledigte ’nen ganz gewöhnlichen Job. Bezahlte Schutzgelder wie ’n ganz gewöhnlicher Pub-Lasse.
Er sah, wie sich sein Gesicht in den Fensterscheiben zur Straße spiegelte. Das kurz geschnittene lockige Haar war nach hinten gegelt. Der Bartansatz stand ihm gut. Markante dunkle, sorgfältig gezupfte Augenbrauen, aber darüber: Falten. Er musste sie im Knast bekommen haben. Oder es war die Sonne in Thailand, die ihre Spuren auf seiner Stirn hinterlassen hatte.
Er musste daran denken, wie er während des Jahres nach seiner Flucht ausgesehen hatte. Musste angesichts der Erinnerung immer noch grinsen. Die Flucht mit großem F: eine magische Attacke auf den schwedischen Strafvollzug, eine Asi-Demonstration mit Klasse, ein deutliches Signal an alle Jungs da drinnen:
Yes, we can
. Jorge Royale: der Typ, der die Aufseher im Salsastyle geradewegs in den Arsch gefickt hatte. Der Kumpel, der mit Hilfe von ein paar Bettlaken und einem Wurfhaken, gebastelt aus einem Basketballkorb, aus Österåker abgehauen war. Der Typ, der spurlos verschwand. Slam dunk – er bedankte sich beim Staat für die Verpflegung und sagte adios.
Damals: der Mann, der Mythos. Die Legende.
Inzwischen: alles ziemlich lange her. Er war in Schweden auf der Flucht gewesen. Im ganzen Land fahndeten sie nach ihm wie nach ’nem verdammten Mörder. Er hatte sich verwandelt. ’nen neuen Look aufgelegt –
el zambo macanudo
. Neger-Jorge in Freiheit. Hatte alte Freunde hinters Licht geführt, die Bullen an der Nase herumgeführt, eine ganze Reihe von Verwandten zum Narren gehalten. Doch die Jugos hatte er nicht täuschen können. Mrado Slovovic, der brutale Fighter von Herrn R. spürte ihn auf, schlug ihn zusammen. Aber sie besiegten ihn nicht. Jorge erhob sich aus der Asche – eroberte Stockholm im Sturm.
Und dann ging er nach Thailand, um alles hinter sich zu lassen. Doch schließlich kam er wieder zurück – er wusste eigentlich nicht genau, warum; vielleicht, weil ihm langweilig wurde.
Der Staat hatte ihn wieder eingebuchtet. Was hatte er auch anderes erwartet? Für den Rest seines Lebens auf der Flucht zu sein? So etwas machten nur Wirtschaftskriminelle und alte Nazis, die ihren Namen gewechselt und sich Villen in Buenos Aires zugelegt hatten.
Er checkte in Kumla ein. Knallharte Anstalt für Fluchtgefährdete. Begleiteter Ausgang:
forget it
. Vorzeitige Entlassung:
nope
. Besuch ohne Überwachung: mach keine Witze. Dennoch: Er konnte sich auf die Schulter klopfen – das Ganze war es wert gewesen. Mehr als anderthalb Jahre auf der Flucht. Er hatte ’ne tolle Zeit gehabt, inklusive thailändischer Drinks mit Schirmchen im Glas.
Und jetzt: Das neue Projekt brodelte.
Das Café blieb heute geschlossen. Er wartete auf Tom Lehtimäki. Hatte vor, ihn zu fragen, ob er beim GTÜ -Gig dabei sein wollte. Sein erster Versuch einer Rekrutierung. Nach Mahmud. ’ne wichtige Sache. Zugleich: ’ne gefährliche Sache – wenn der Typ nicht wollte. Wenn er
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