- Lasst die Toten ruhen
war«, antwortete der alte Mann. »Es heißt, er sei ein Mann von übermenschlicher Stärke gewesen und er wurde nicht nur wegen seines zügellosen Temperaments, sondern auch wegen seiner Verträge mit den Türken gefürchtet. Jede junge Frau der Gegend, die sein Augenmerk erregte, wurde entführt und verschwand für immer in seinen Turm. Als das Maß seiner Schandtaten voll war, erhob sich das Volk des ganzen Umlandes, belagerte die Festung und erschlug ihn schließlich an jenem Ort, an dem heute der große Eichenbaum steht.«
»Ich frage mich, warum sie nicht die Burg niederbrannten, um die Erinnerung an ihn vollständig auszulöschen«, sagte der Ritter.
»Es war ein von der Kirche abhängiges Gut, und dieser Umstand schützte es. Euer Urgroßvater brachte es später in seinen Besitz, weil es über gutes Land verfügt. Da der Ritter von Klatka aus guter Familie war, errichtete man ihm ein Denkmal in der Kirche, die jetzt genauso zerstört ist wie die Burg selbst.«
»Oh, lasst uns sofort aufbrechen! Nichts soll uns daran hindern, einen so aufregenden Ort zu besuchen«, sagte Franziska voller Eifer. »Die gefangenen Maiden, die nie wieder auftauchten, die Erstürmung des Turms, der Tod des Ritters, das nächtliche Umgehen des Geistes und die alte Eiche und schließlich unser eigenes Abenteuer, alles zieht mich mit unbeschreiblicher Neugier dorthin.«
Als ein Diener ankündigte, dass die Pferde an der Tür wären, trippelten die jungen Damen lachend die Stufen in den Burghof hinunter. Franz, der Ritter und ein ortskundiger Diener folgten, und innerhalb von wenigen Minuten war die Gesellschaft auf dem Weg in den Wald.
Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, als sie den Turm der Klatka-Ruine sich über die Bäume erheben sahen. Der Wald war völlig ruhig, nur die Vögel zwitscherten fröhlich, während sie durch die sich öffnenden Knospen und Blätter hüpften, und kündigten an, dass der Frühling vor der Tür stand.
Die Gesellschaft fand sich bald nahe der alten Eiche am Fuße des Hügels wieder, auf welchem die immer noch aus den Ruinen ragenden Türme standen. Efeu und Brombeersträucher hatten sich über die Wände gezogen und ihre tiefen Wurzel so fest zwischen die Steine getrieben, dass sie diese weitgehend zusammenhielten. Auf dem am höchsten gelegenen Flecken wog ein keiner Busch sein frisches Grün in der leichten Brise.
Die Herren halfen ihren Gefährtinnen beim Absteigen und überließen die Pferde der Obhut des Dieners. Dann stiegen sie den Hügel zur Burg hinauf. Nachdem sie jeden Winkel erkundet hatten und vergeblich viel Zeit mit der Suche nach Spuren des erstaunlichen Fremden verbracht hatten, welchen Franziska bedingungslos aufspüren wollte, gingen sie zur Inspektion der angrenzenden Kirche über. Sie stellten fest, dass diese den Zorn der Zeit und des Wetters besser überstanden hatte; das Hauptschiff war zwar völlig verfallen, aber der Chor und der Altar wurden immer noch von Resten das Dachs geschützt, genau wie die Kapelle, mit der anscheinend die Familien der alten Ritter der Burg geehrt wurden. Wenige Überbleibsel des wunderbar bemalten Bleiglasfensters, das einst die Kirche geziert haben musste, waren jedoch erhalten geblieben, und der Wind pfiff durch die Lücken, wie es ihm gefiel.
Die Gesellschaft beschäftigte sich eine Zeit lang damit, die Inschriften der Grabsteine und Wände, von denen die meisten im Chor zu finden waren, zu entziffern. Es handelte sich bei ihnen meistenteils um Andenken an die alten Herren mit Figuren von Männern in Rüstungen und Frauen mit Kindern in jedem Alter. Ein fliegender Rabe und verschiedene andere Motive befanden sich an den Ecken. Ein Grabstein, der nahe am Eingang des Chors stand, unterschied sich deutlich von den anderen: Ihn schmückte keine Figur, und die Inschrift war anders als die sonst ausufernden und schmeichelnden Lobreden knapp und schmucklos. Sie bestand aus den Worten: »Ezzelin von Klatka fiel wie ein Ritter, als die Burg gestürmt wurde« – an diesem und jenem Tag und Jahr.
»Dies muss das Denkmal des Ritters sein, dessen Geist in den Ruinen spuken soll«, rief Franziska eifrig. »Wie schade, dass es kein Abbild wie von den anderen gibt – ich hätte so gerne gewusst, wie er war!«
»Oh, dort muss die Familiengruft sein. Diese Stufen führen hinunter und die Sonne erleuchtet sie durch einen Riss«, sagte Franz und trat von der sich anschließenden Sakristei.
Die ganze Gesellschaft folgte ihm die acht oder neun Stufen
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