Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
Vom Netzwerk:
den Fußspitzen dem grünen Vorhange und zog an einer verborgenen Schnur.
    Staub stieg empor, und aus der grauen Wolke, die sich schnell verzog, trat eine weibliche Figur von seltsamem Reize. Es war eine hochgewachsene Frau von schlangenartiger Schlankheit, in dunklen Sammet gekleidet, welche mir ein kaum schön zu nennendes, aber in seiner sanften Wildheit und lächelnden Schwermut berückendes, von dunklen Locken, auf denen eine polnische Mütze leicht und kokett saß, dämonisch eingerahmtes Antlitz zukehrte. Ihre großen, dunklen, brennenden Augen schienen zu phosphorisieren und, als ich zurückwich, mir zu folgen.
    Was in diesem Blick lag – ich weiß es nicht; etwas Unbegreifliches, das mir den Atem benahm, mir das Herz in der Brust hämmern und die Knie schlottern machte.
    »Sie ist gut getroffen«, flüsterte der Alte.
    Ich sah ihn entsetzt an, wie man eben einen Menschen ansieht, bei dem man plötzlich entdeckt, dass sein Geist gestört ist. Er schien es zu bemerken, zuckte die Achseln und verhüllte das Bild. Ich empfand in diesem Augenblick einen brennenden Schmerz am Zeigefinger. Es war mein Verlobungsring, der mich zum ersten Male, seitdem ich ihn trug, in das Fleisch schnitt.
    »Nun, Herr Jakub«, sagte ich, »werdet Ihr mir nun auch das Marmorweib zeigen?«
    Er streckte seine dürre Hand, die nicht viel anders als ein welkes Blatt war, aus dem Ärmel des Kontusch hervor und schwenkte sie hin und her. »Ich weiß es«, sagte er mit seiner knarrenden Stimme, »dass der Herr deshalb gekommen ist, aber jetzt ist es nicht an der Zeit. Kommen der Herr Wohltäter morgen nachts, da haben wir Vollmond, da werden die Toten lebendig.«
    »Bist du bei Sinnen!«, stieß ich halb unbewusst hervor.
    »Sehr wohl, mein teurer Herr«, erwiderte er mit einem Lächeln, das sich wie ein Sonnenstrahl in seinen grauen Schnurrbart stahl, »ich weiß auch, was ich rede. Das Bild ist gut getroffen und auch der tote Stein hat Ähnlichkeit, ich kenne sie, doch wer soll sie denn kennen, wenn ich sie nicht kenne? Habe ich sie doch auf diesen meinen Knien geschaukelt, so wahr ich Gott liebe.«
    Mir schauderte vor der tiefen Überzeugung, mit der der Alte das Unmögliche aussprach, ich gab ihm rasch ein Goldstück, das er ehrerbietig nahm, eilte in den Hof hinab, ließ mein Pferd aufführen und ritt den Abhang hinunter mit dem Vorsatz, dem geheimnisvollen Schlosse und seinem wahnsinnigen Bewohner nie wieder in die Nähe zu kommen.
    Aber es war dies ein Vorsatz, wie eben Vorsätze sind. Schon am nächsten Morgen nannte ich mich einen Feigling, mittags hielt ich mir selbst eine schöne Rede gegen den Aberglauben, und mit Anbruch der Nacht saß ich im Sattel, um dem schönen Marmorbilde einen Besuch zu machen.
    Es war kalt, aber die Luft stille und ohne Regung. Die große reine Scheibe des Vollmondes stand bereits hoch am Himmel, sodass von dem goldenen Licht und dem Blitzen der Sterne nichts mehr zu sehen war als ein bleicher, dämmeriger Schimmer. Es schien Tag zu sein, ein trüber Tag mit bleigrauem Lichte zwar, aber doch Tag, so mächtig war die Silberhelle des Mondes, von welcher Nähe und Ferne überströmt waren und welche der Schnee, der alles umher gleichmäßig in sein grelles Weiß einhüllte, scharf zurückwarf. Man konnte weithin jeden noch so kleinen Gegenstand erkennen, nur in der Ferne schwebte es wie leichter Rauch, und hinter demselben standen die Berge in diamantenen Schleier gehüllt.
    Schnee und Mond sind in solchen klaren, ruhigen Nächten erstaunliche Künstler, Baumeister und Bildner vor allem, sie wetteifern, Gestalten in unsern Weg zu stellen und fabelhafte Gebäude aufzurichten. Da, wo sonst eine verlorene, rußige Bauernhütte mit windschiefem Strohdach steht, haben sie einen herrlichen Eispalast mit blitzenden Fenstern aufgeführt wie jenen, der unter der Regierung der Zarin Anna [64] auf dem Eis der Newa erbaut worden ist. Von einem breiten Hügel winken düstere Säulen mit funkelndem Knauf, frei in die Luft ragend gleich einer griechischen Tempelruine. An dem Ufer des Teiches schien eine vom Scheitel bis zur Sohle in weißen Schleier eingehüllte Tartarenfrau zu stehen und sich in seiner grün leuchtenden Eisfläche wie in einem Spiegel zu beschauen, während in der Ferne Götterbilder ragten, aus blendendem Marmor geformt, und auf dem schimmernden Plan der Wiese holde Elfen sich zu einem geisterhaften Reigen verschlagen.
    Auf dem Friedhof war jedes der armen Gräber mit einem hohen Sarkophag

Weitere Kostenlose Bücher