Last days on Earth: Thriller (German Edition)
zu wirken. Sie betrachtete sie einen Augenblick lang, dann sah sie Tora fragend an.
»Können Sie sich an das Bild erinnern?«, fragte Tora-san.
Karla schluckte und bejahte.
Tora nickte leicht. »Dies ist ein Zeichen, das Ihnen helfen wird, einen eindringenden Daimon zu bändigen, ihn festzuhalten und daran zu hindern, mit Ihrem Körper Dinge zu tun, die Sie nicht wollen. Wenn das geschieht, müssen Sie augenblicklich zu mir kommen, wo auch immer Sie sich gerade befinden, damit ich den gehaltenen Daimon austreibe. Das kann ich Ihnen nicht auf die Schnelle beibringen, es erfordert eine gewisse Erfahrung in solchen Dingen. Zaudern Sie nicht zu lange! Je mehr Zeit er hat, desto schwieriger wird es, ihn wieder loszuwerden.«
Karla wollte schaudernd den Blick ab- und wieder auf die Sigille wenden, aber Tora-san war schneller. Sie griff nach dem Papier und drehte es um. Dann schob sie Karla ein leeres Blatt und einen Bleistift hin. »Zeigen Sie mir, was Sie sich gemerkt haben.«
Ohne zu zögern, zeichnete Karla die Sigille auf das Papier. Tora betrachtete sie mit gerunzelter Stirn, dann nickte sie. »Gut. Die wesentlichen Bestandteile sind da. Sie haben einen guten Blick.« Sie öffnete ihr Zigarettenetui. »Jetzt kommt der schwierige Teil. Verbannen Sie die Sigille aus Ihrem Gedächtnis. Restlos.«
»Aber …«, sagte Karla.
»Sie müssen sie vergessen. Sigillenmagie wirkt nicht, wenn sie sich beobachtet fühlt.« Tora-san lächelte. »Das ist der schwierige Teil. Manche unserer Lehrlinge lernen ihn nie – und werden keine Chaosmagier. Sie haben leider keine Wahl, Sie müssen es beherrschen.«
Karla holte tief Luft, schloss die Augen und radierte die Sigille aus. Es fiel ihr erstaunlich leicht. Linie um Linie, Schwung um Schwung tilgte sie das Bild der Zeichnung, bis nur noch das leere Blatt vor ihrem inneren Auge stand.
Sie öffnete die Augen und sah Tora an. Die Großmeisterin erwiderte ihren Blick mit sanftem Tadel. »Ja, meine Liebe?«
»Vergessen«, erwiderte Karla. »Und jetzt?«
Tora zeigte zum ersten Mal, seit Karla ihr gegenübersaß, ihre deutliche Verblüffung. »Das können Sie nicht …« Sie unterbrach sich mit einem ungeduldigen Schnauben und streckte die Hand aus. »Lassen Sie mich selbst sehen.«
Karla neigte den Kopf und erduldete die Berührung der kühlen Finger an ihrer Schläfe. Sie schrak hoch, als Tora einen Laut ausstieß, der zwischen Lachen und Keuchen lag. Tora löste ihre Fingerspitzen von Karlas Schläfe und griff nach der im Aschenbecher verqualmenden Zigarette. Sie musterte Karla nachdenklich durch den zarten Rauchschleier. »Sind Sie wirklich nicht daran interessiert, einen Wechsel zum Schwarzen Zweig zu erwägen? Ich wäre bereit, Sie auszubilden.«
Karla ging darauf nicht ein. »Wie muss ich vorgehen, wenn Brad – oder ein anderer – mich zu besetzen versucht?«, fragte sie stattdessen.
Tora neigte bedauernd den Kopf. »Sie werden die Sigille, die Sie gerade so erfolgreich vergessen haben, gegen ihn anwenden. Das hindert ihn daran, Sie ganz und gar zu vereinnahmen.«
»Wie kann ich das tun, wenn ich sie doch vergessen habe?«
»Sie werden es einfach tun. Ohne Absicht. Sozusagen im Vorübergehen. Sorgen Sie sich nicht darum. Wenn es so weit ist, werden Sie wissen, was zu tun ist.«
»Danke«, sagte Karla.
»Denken Sie über mein Angebot nach.« Tora kam geschmeidig auf die Füße und strich ihren Kimono glatt. Sie neigte kurz den Kopf. »Ich höre von Ihnen.«
Karla sah ihr sprachlos nach, als sie durch die Schiebetür in den Garten ging. Offensichtlich war die Audienz beendet.
12. 19. 19. 11. 01.
Sie stritten sich noch auf dem Weg in den wilden Osten der Stadt, wer sie nun endgültig auf die Spur des Wurdelaks gebracht hatte: Der findige Vadim Sonofabiˇc oder Raoul mit seiner teuer bezahlten Kugel, die er endlich zur Mitarbeit hatte überreden können.
»Sonny war einen Hauch früher auf der Fährte«, beharrte Karla und versuchte, ihre Notizen zu entziffern. Das war nicht leicht, weil es schon dunkel wurde und der Wagen zudem über eine schlecht befestigte Straße holperte.
»Als er bei uns anrief, hatte ich den Ort schon längst auf dem Plan markiert«, behauptete Raoul und umfuhr ein riesiges Schlagloch. »Wo, zum Henker, bleibt diese verdammte Abzweigung? Sind wir schon daran vorbei?«
»Halt doch mal den Wagen still«, schimpfte Karla, die mit einer Hand die Karte und mit der anderen sich selbst festhielt. Sie hüpfte im Sitz auf und ab und
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