Last days on Earth: Thriller (German Edition)
weiterschlagen musste. Das war kein Ort, an dem sie sich lange aufhalten durfte, aber es war auch nicht nötig. Da war der Wachmann, da war sein gewaltsamer Tod unter Schmerzen und Angst, dort waren die Energielinien der gestohlenen Bücher und die schwachen Felder der anderen Gegenstände, sie konnte die verwischten Signaturen der Kuratorin und des Personals erkennen – aber nichts sonst.
Karla ließ sich auf die unterste Wahrnehmungsebene zurückfallen und wartete mit geschlossenen Augen, bis ihre Atmung sich wieder normalisiert hatte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie in Raouls Gesicht. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Tür.
»Raoul?«, fragte Karla. »Oder Brad?«
»Raoul«, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln. »Sorry.«
Karla schnaubte. »Wir müssen bei Gelegenheit ein Wörtchen über Ihre Methoden wechseln. Aber nicht jetzt. Hören Sie.« Sie berichtete knapp von ihren Beobachtungen.
Raoul kniff die Augen zusammen. »Das ist seltsam«, sagte er.
Karla konnte ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken. Er war nicht weniger schnell als Fokko, das stand fest. Dem hätte sie auch nichts erklären müssen.
Raoul stand jetzt vor dem Bücherregal und klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Nase. »Sie sind sicher, dass es Ihnen nicht einfach nur entgangen sein könnte?«
»Sehen Sie doch selbst nach!«, erwiderte sie scharf.
Raoul hob entschuldigend die Hand. »Nicht nötig.« Er kniete nieder und betastete das Holz des Regals. Dann warf er einen Blick zur Tür. »Haben Sie feststellen können, ob sie gewaltsam geöffnet wurde?«
»Noch nicht.« Sie lächelte. »Ich bin schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht.«
Raoul legte die langen Hände auf Klinke und Schloss der Tür und tat wenig später das Gleiche mit der Türfalle und dem Schließblech am Türrahmen. Dann nickte er. »Sie wurde nicht aufgebrochen. Ohne Zweifel.«
»Ohne Zweifel«, wiederholte Karla und seufzte. »Damit haben wir einen Einbruch, der technisch gesehen keiner war, und einen Mord ohne Mörder.«
Keine Schwingung, keine Rest-Resonanz, keine Energiesignatur deutete darauf hin, dass irgendjemand hier im Raum gewesen war und den Wachmann getötet hatte.
»Ob seine Leiche von draußen hereingeschafft wurde?«, dachte sie laut. Aber die Angst und der Tod des Wachmannes hingen hier im Raum wie ein übler Gestank, den sie sogar mit ihren normalen Sinnen wahrzunehmen glaubte. Er war hier gestorben, genau an dieser Stelle.
»Die beschriebenen Verletzungen waren zu schwer, der Blutverlust zu groß«, gab Raoul zu bedenken. »Die Spuren hätten sich nicht verbergen lassen.«
Karla stimmte dem zu. »Ich muss herausfinden, wo der Untersuchungsbericht sich befindet«, sagte sie. Und warum sie ihn nicht bekommen hatte.
Raoul kniete wieder vor dem Bücherregal. Von dort nahm er die Vitrine und das Stehpult in Augenschein. »Zwei hier, eins in der Vitrine, eins auf dem Pult – angekettet, wie mir scheint. Und der Rest stand im Regal.« Er verschränkte die langen Arme um die Knie und lehnte sich gegen das Regal. »Sieben Bücher sind laut dem Bericht hier gestohlen worden. Welche Titel waren es?«
Karla griff hastig nach ihren Unterlagen, bevor Brad die Frage beantworten konnte.
Sie las die Liste vor und sah Raoul fragend an. »Sagen sie Ihnen etwas?«
»Nein«, erwiderte er. »Nein, keins davon. Es scheint sich hier um eine sehr spezielle Sammlung zu handeln. Ich kann mit kaum einem der Titel etwas anfangen.«
Karla sah die Bücher in dem Regal neben ihrer Schulter durch und schüttelte den Kopf. »Meine Güte. Was sind das für Sprachen?« Sie zog einen der Folianten heraus und blätterte flüchtig darin herum. »Mathematische Formeln?« Sie zog einen anderen heraus. »Sternbilder. Wenigstens etwas Bekanntes.« Sie stellte das Buch zurück und musterte den Raum. »Wie auch immer, es gibt keine morphische Strahlung. Die Sheldrake-Felder sind nicht stärker als in jeder gewöhnlichen Bibliothek.«
Sie blickte Raoul an, der immer noch auf dem Boden hockte. Er sah müde aus. »Machen wir für heute Schluss«, sagte sie. »Ich habe Hunger. Sollen wir irgendwo noch einen Happen essen?« Im gleichen Moment trat sie sich selbst in den Hintern. Was sollte dieser Vorschlag? Anscheinend versuchte ihr Unterbewusstsein, sie noch eine Weile von Kit und den unbequemen Fragen, die sie an ihn hatte, fernzuhalten. Fürchtete sie die Auseinandersetzung, die unweigerlich daraus entstehen würde?
Ja, gab sie sich die Antwort.
Weitere Kostenlose Bücher