Last days on Earth: Thriller (German Edition)
sicherlich wollen, dass sie auszog.
Karla hob den Blick und seufzte. »Raoul, ich ziehe natürlich sofort aus. Wenn ich bis morgen aber noch bleiben dürfte …«
Der Themenwechsel schien ihn unvorbereitet zu treffen. Er runzelte die Stirn. Sein melancholisches Gesicht wurde noch länger und düsterer. »Ich bin dir unangenehm«, sagte er. »Ich bin nicht Brad.«
Karla schloss ihre Hand fest um sein Handgelenk. »Rede keinen Blödsinn! Du bist mir tausendmal lieber als dein Daimon. Brad ist schwierig, anstrengend und hat unappetitliche Angewohnheiten.« Sie lächelte schief. »Allerdings muss ich zugeben, dass er auch sehr charmant sein kann, wenn er will.«
Raoul zog seine Hand weg, weil er dem Kellner Platz machen wollte.
Als sie ihren Espresso und den Grappa tranken und Raoul erst seinen und danach ihren Nachtisch verputzte, fragte Karla: »Du hast wirklich keinerlei Erinnerung an die letzten Monate?«
»Nein«, erwiderte er kurz. »Brad und ich teilen nur wenig miteinander. Es gibt einen Teil unseres Bewusstseins, der uns beiden gemeinsam gehört. Dort legt Brad die Informationen ab, die für mich bestimmt sind.«
»Das klingt nicht gerade nach einem guten Deal«, kommentierte Karla. »Wäre es nicht nützlich, wenn du jederzeit auf sein Gedächtnis und seine Erinnerungen zugreifen könntest?«
Raoul sah sie an. »Du hast keine Ahnung. Ich habe einmal zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit versehentlich sein Territorium betreten.« Er schauderte. »Davon träume ich heute noch manchmal.«
»Wie hast du ihn überhaupt damals beschwören können? Du warst doch noch feucht hinter den Ohren.«
Jetzt griff auch Raoul zu seinem Grappa. Er roch daran, verzog das Gesicht und kippte ihn hinunter. »Tora-san«, sagte er.
Karla hatte inzwischen ein paarmal mit der Großmeisterin telefoniert. Tora-san hatte es geschafft, sie zu beeindrucken und gleichzeitig einzuschüchtern. Selbst durch das Telefon war die Wucht ihrer Persönlichkeit deutlich zu spüren gewesen. »Ich stelle es mir schwer vor, ihr Schüler zu sein.«
Raoul dachte darüber nach, während er Zucker in seinen Kaffee rührte. »Nein. Anspruchsvoll, ja. Fordernd. Ich musste immer wach sein. Sie duldet keine Ausflüchte. Aber sie ist auch geduldig und eine gute Lehrerin. Und ganz sicher die stärkste Magierin, die der Schwarze Zweig in seinen Reihen hat.« Er lächelte versonnen. »Ich war damals mächtig stolz, dass sie mich ausbilden wollte.«
»Und sie hat dich mit Brad – verkuppelt?«
Raoul trank die kleine Tasse Espresso mit einem Schluck aus. »Nein. Sie hat mir abgeraten. Sie hat mich gewarnt. Sie hat mir gedroht, mich rauszuschmeißen. Sie hat alle Register gezogen, um mich davon abzubringen. Aber schließlich hat sie nachgegeben und mir geholfen.«
»Warum?«
Er sah erstaunt aus. »Weil sie meinen Wunsch respektiert hat. Wäre das bei euch Weißen Hexen nicht so gelaufen?«
Karla biss sich fest auf die Lippe. »Nein, es wäre so nicht gelaufen. Wenn mein Ausbilder etwas für falsch gehalten hätte, hätte er mir den Marsch geblasen, es mir verboten und fertig. Man muss junge Magiebegabte schließlich noch vor sich und ihren Fähigkeiten schützen.«
»Welpenschutz?« Raoul schüttelte verächtlich den Kopf. »Nein, das sehen wir völlig anders. Jeder hat das Recht, seine Persönlichkeit auszuleben, wie es ihm gefällt, und sich dabei auch Blessuren einzuhandeln. Niemand darf dir vorschreiben, was du zu tun oder zu lassen hast – solange du nicht die Rechte anderer verletzt.«
»Aber das wird doch ständig geschehen«, wandte sie ein. »Wie regelt ihr solche Konflikte?«
»Schlimmstenfalls mit einem Duell.« Raoul grinste. »Ich hätte Tora zum Zweikampf fordern müssen, wenn sie darauf bestanden hätte, sich meinen Wünschen in den Weg zu stellen. Mein Glück, dass sie nachgegeben hat.«
Karla musterte ihn interessiert. Das Leben kehrte in seine Züge, seinen Blick zurück. Er sah nicht mehr aus wie ein wandelnder Toter. Der Wilden Jagd sei Dank – sie war mit Zombies, Ghulen und Wiederkehrern noch nie besonders gut zurechtgekommen.
»Also darf ich noch ein paar Tage bleiben?«, fragte sie. »Ich könnte zwar jederzeit wieder in die Villa ziehen, aber ehrlich gesagt …« Sie schnitt eine Grimasse.
Raoul nickte schwermütig. »Du kannst bleiben, solange du willst. Ich habe Platz genug.« Er räusperte sich verlegen. »Wo – hm –, wo hast du bisher geschlafen?«
Karla benötigte einen Augenblick, bis sie verstand. Sie lachte.
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