Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
irgendwann, so am Ende des vergangenen Sommers, hat sie sich plötzlich vollkommen anders geäußert. Ich war erst überzeugt, daß sie mich auf den Arm nehmen will, und hab mit ihr darüber gestritten, bis ich gemerkt habe, ihr ist es wirklich ernst. Sie hatte sich, soweit ich das aus der Ferne beurteilen konnte, völlig verändert. Das war nicht mehr die alte Franziska. Sie wollte ihn tatsächlich heiraten. Es ging um nichts anderes mehr als um ihre gemeinsame Liebe. Und mit einem Mal war sie es, die sich in seelischer Not befand, weil er sich nämlich nicht entscheiden konnte, ja das Geheimhalten ihrer Beziehung unbedingt gewahrt wissen wollte. Welch eine Tragödie. Ich verstehe gut, wie sehr sie um ihn gekämpft haben muß. – Kennen Sie Kleist, seine Erzählung über die Marquise von O.? Der Schlußsatz kommt mir immer wieder in den Sinn. ‹Er würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.› Vielleicht war sie sein Engel; aber mehr noch war er ein Engel für sie.»
Philipp war zutiefst berührt. So hatte er Franziska Ruhland nie gesehen. In seinem Kopf verschwammen die Vorstellungen von Elisabeth, Almut und Franziska ineinander. Es war schon ein Jammer mit dem Computer und den virtuellen Welten, die sogar über den Tod hinauszureichen schienen. Jetzt begegnete er einem Menschen wie Elisabeth – ja mit ihr irgendwie auch Franziska – und er konnte nicht real mit ihr sprechen wie mit einem echten, körperlich anwesenden Gegenüber.
Ein Trost blieb ihm freilich, weil ihm Elisabeth zum Abschied für heute versicherte, daß sie gleichfalls die Stille liebe; und wenn sie nach Bamberg zurückkehre, dann hoffe sie jedesmal, das ruhige alte Bamberg ihrer Erinnerung wiederzufinden, wozu natürlich «Ottilies Weinstube» gehöre. Bei ihrem nächsten Besuch, etwa in einem halben Jahr, möchte sie sich auf jeden Fall dort mit ihm verabreden, ob er nun ein Priester sei oder nicht.
Bevor Philipp Laubmann in sein Büro ging, nahm er sich vor, am Abend eine besonders gute Flasche Wein zu öffnen. Der Geschmack eines «Spitalweins» würde seine Vorfreude auf das Treffen mit Elisabeth noch steigern.
XXVI
Die Kommissare Lürmann und Glaser hatten sich mit Pfarrer Gregor Nüßlein, dem «Geistlichen Beistand» der Sühnenacht-Bewegung, in der Kirche St. Vitus verabredet. Sie wollten sich von seiner Seite aus die Gegebenheiten im Kirchengebäude während der Tatnacht schildern lassen. Daher trafen sie Pfarrer Nüßlein in demjenigen Seitenschiff der Barockkirche, wo sich der Beichtstuhl befand, in dem er regelmäßig die Beichtgelegenheit anbot. Dadurch war die Befragung mit einer Art Ortsbesichtigung verbunden. Die Kirche wirkte an diesem trüben Spätherbsttag nicht sehr stimmungsvoll, sondern finster und bedrückend. Laubmann hätte seine oft so strahlend-barocke Lieblingskirche nicht wiedererkannt. Nur die Kerzen vor einer weißen Marienstatue in einer Nische des rechten Seitenschiffs erhellten den dortigen Bereich.
Ansonsten war es so dunkel und labyrinthisch, daß Lürmann sich kaum zurechtfand und sich fast verlaufen hätte. Er war Kirchgänge ohnehin nicht mehr gewohnt. «Wo bleiben Sie denn?» fragte ihn Glaser, als er Nüßlein unweit vor sich von einer Seitentür her kommen sah. Lürmann erschien kurz darauf hinter einer der ausladend gemeißelten Säulen, die oben und unten von üppigen Wülsten umschlossen waren. Ein bißchen hatte er sich auch absichtlich unwissend gestellt, denn er wollte vor Glaser nicht in den Verdacht geraten, sich in Kirchen auszukennen. Seine weitgehend agnostische Christlichkeit sollte nicht zu einem Thema zwischen beiden in einem privaten Gespräch werden. Er wußte, wie aufmerksam sein Kollege hinschaute. Und außerdem, warum sollte man Pfarrer Nüßlein nicht provozieren? Das hatte manchen schon zu unbedachten Äußerungen verleitet.
Nüßlein kam ihnen wie ein schmächtiges und dennoch agiles Männlein vor und zugleich wie ein älterer Herr, der den Ehrentitel «Geistlicher Rat» bewußt führte. Er war nicht bloß notgedrungen der Kleriker, der die Sühnenacht-Bewegung unter anderem als Beichtvater betreute, sondern er nahm diese Art der Religiosität aus Überzeugung sehr ernst. Gerade die Nachlässigkeit in der Befolgung kirchlicher Regeln und religiöser Praktiken war es, die ihn am modernen Christentum störte. Daher blieb er während des Gesprächs eher reserviert und unzugänglich,
Weitere Kostenlose Bücher